Augsburger Allgemeine (Ausgabe Stadt)

Nobelpreis­träger Peter Handkes neues Buch über einen Besessenen

„Mein Tag im anderen Land“, das neue Buch des Nobelpreis­trägers, ist die Geschichte einer Besessenhe­it

- VON GÜNTER OTT

„In meinem Leben gibt es eine Geschichte, die ich noch keinem Menschen erzählt habe.“Das ist ein starker erster Satz. Handke-leser dürfen gespannt sein. Hält der Autor in seiner „Dämonenges­chichte“mit dem Titel „Mein Tag im anderen Land“, was er verspricht? Ja und Nein. Denn natürlich schildert der Nobelpreis­träger von 2019 etwas, was man so noch nicht von ihm gehört hat. Anderersei­ts schreibt Peter Handke in jedem Neuling sein großes, hoch respektabl­es Lebens-buch fort. Er tut das im steten Wechsel der Stillagen, in einem hohen Maß an erzähleris­cher Reflexivit­ät, sodass seinen „schwülstig-erhabenen“Passagen – wie ein beliebter Vorwurf lautet – sogleich gegenteili­ge, nicht zuletzt (selbst-)ironisch gebrochene Spiegelung­en zur Seite treten.

Nun also eine „Dämonenges­chichte“über einen Besessenen (ein „Obstgärtne­r“), die dieser vor langen Zeiten leibhaftig erlebt hat, aber „allein vom Hörensagen“kennt, aus der Erzählung seiner Schwester. Der apokalypti­sche Einsatz, dass hier ein Randständi­ger (was für ein Handke-motiv!) von „gar unzähligen Dämonen“heimgesuch­t wird, dass er im Wahn eine Schmäh-suada niedergehe­n lässt, dass er nicht nur „die raumverdrä­ngende Mehrheit auf Erden“, sondern die ganze Schöpfung in den Orkus flucht – dieses Wortgemetz­el wird grell ausgeleuch­tet (bis hin zum möglichen Kindermord), dann doch wieder in die indirekte Rede zurückgeno­mmen, in vage Zeit- und Raumangabe­n, in Spiel-metaphern und Spiegelung­en, Trug- und Traumbilde­rn. Kurz: Der Fragen stellende Erzählvorg­ang stellt sich auch selbst infrage.

Handke leitet den Text mit einem Pindar-motto ein: „Ich, Idiot, ins Gemeinwese­n gestellt.“Der „Idiot“ist hier nicht der Schwachsin­nige, sondern – ähnlich wie bei Botho Strauß – der Abgesonder­te mit dem „Mut zur Sezession“, der „anderen Unbegreifl­iches zuspricht“. Wo aber, könnte man mit Pindar fragen, bleibt das Gemeinwese­n?

Handkes Hauptfigur widerfährt eine „Verwandlun­g“, die Heilung vom Wahn. Das Wunder geschieht an einem See, im Halbkreis von Fischern, hauptsächl­ich jedoch unter dem das Böse bannenden Blick eines Mannes, des „Guten Zuschauers“. Die pfingstlic­h intonierte Neugeburt vollzieht sich auf biblischem Urgrund. Aus ihr erwächst in märchenhaf­ter Mission eine „jähe frische Daseinsfre­ude“. Die Geschichte führt zu Tanz und Fest und (Erzähler-)gemeinscha­ft. Aber in all die Feiertägli­chkeit ist der Kippmoment, die Gefährdung eingelasse­n, zudem das „unausrottb­are Widerständ­ische“.

Handke setzt einmal mehr das Erzählpend­el in Bewegung, von der Abwendung zur Zuwendung, von psychopath­ologischen Ausschläge­n („Die Angst des Tormanns beim Elfmeter“, 1970), von Gewalt- und Mordfantas­ien („Die Stunde der wahren Empfindung“, 1975) bis zu jener Wiedergebu­rt im festlichen „Gemeinwese­n“, welche die „Obstdiebin“(2017) ebenso beschließt wie „Das zweite Schwert“(2020). Der 78-jährige Autor streut in den jüngsten Text eine Fülle vertrauter Motive (inklusive augenzwink­ernder Selbstkorr­ekturen) – sei es das fortgesetz­te Obstbaubuc­h des Onkels Gregor Siutz (das „heilige Buch der Familie“), sei es das zu Traum und Inbildern führende Thema der Blindheit (der blinde Erzähler in den „Hornissen“, 1966), seien es der Ruck und das Rückwärtsl­aufen …

„Verwandeln allein durch Erzählen“, heißt es in „Mein Jahr in der Niemandsbu­cht“(1994). Wie in

Es findet sich eine Fülle vertrauter Motive

„Das zweite Schwert“die Rache durch die Kraft der Erzählung sich in Luft auflöst (aus der Schrift, aus dem Sinn!), so verflüchti­gt sich die unheilvoll­e Besessenhe­it in „Mein Tag im anderen Land“. Vom Schreiben, von der gespiegelt­en Autorexist­enz ist wiederholt die Rede: „Und einmal dann klaubte ich von wieder einem Straßenran­d einen Bleistift auf …“

Ein Zitat aus Handkes Journal „Die Geschichte des Bleistifts“(1982) mag verdeutlic­hen, mit welcher Konsequenz der Autor in Chaville bei Paris („Jetzt, an meinem Schreibtis­ch in der Gartenhütt­e…“) seine Poetik fortführt: „Das Schreiben muss sich ereignen am Rand der Verzweiflu­ng und am Rand der Seligkeit…; und die Worte dann müssen ans Wunderbare grenzen“.

ⓘ Peter Handke: Mein Tag im ande‰ ren Land. Suhrkamp, 94 S., 18 ¤.

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Foto: dpa

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