Augsburger Allgemeine (Ausgabe Stadt)
„Napoleon ist keines natürlichen Todes gestorben“
Vor 200 Jahren starb der französische Kaiser, verbannt auf Sankt Helena, an Magengeschwüren – oder war es doch Mord? Der Ulmer Historiker Thomas Schuler forscht nach der Wahrheit und ist überzeugt, den Täter zu kennen
Herr Schuler, verraten Sie uns: Wer war’s?
Thomas Schuler: Der Mörder Napoleons war der französische Offizier Charles Tristan, Graf von Montholon, einer der engsten Vertrauten Napoleons im Exil auf Sankt Helena.
Was war sein Motiv?
Schuler: Es war Habgier, eines der häufigsten Mordmotive der gesamten Kriminalgeschichte. Er wollte an Napoleons Erbe kommen, was ihm auch gelang. Napoleon persönlich setzte Montholon, zwei Wochen vor seinem Tod, mit zwei Millionen Goldfrancs in seinem Testament ein.
Seit den 60er Jahren kursiert die Theorie, Napoleon sei mit Arsen vergiftet worden – und sie ist umstritten. Wieso lehnen Sie sich jetzt aus dem Fenster und sagen: Mit sehr, sehr hoher Wahrscheinlichkeit war es Montholon? Schuler: Ich würde sogar sagen: Er war es mit Sicherheit. Ich würde das gerne an einem Beispiel verdeutlichen. Der einhellige Konsens bis 2013 war: Deutschland hat die Alleinschuld am Ausbruch des Ersten Weltkriegs. Wenn ein deutscher Historiker es bis 2013 gewagt hätte, etwas anderes zu behaupten, wäre er in die rechte Ecke gestellt und zur Persona non grata erklärt worden. Doch dann schrieb Christopher Clark das Buch „Die Schlafwandler“. Der Australier hinterfragte die These, ein riesiger Wirbel brach los – aber er konnte quellenbelegt, sehr gut untermauert, unwiderlegbar überzeugen, dass die Schuld nicht allein bei Deutschland lag. Das heißt: Sind sich alle einig, heißt das noch lange nicht, dass es so ist. So ähnlich ist es mit der These, Napoleon sei ein sehr, sehr kleiner Mann gewesen. Aber er war eben nicht klein, und eines natürlichen Todes an Magenkrebs ist er auch nicht gestorben.
Würde sich an unserem Napoleonbild denn überhaupt etwas grundlegend ändern, wüssten wir, dass es Mord war? Lohnt sich das Nachbohren?
Schuler: Die grundsätzliche Frage lautet doch: Interessiert uns historische Wahrheit überhaupt, oder interessiert uns einfach nur, dass sich Sachverhalte einfach und gut anfühlen? Napoleons Leichnam liegt in sechs ineinander verschachtelten Särgen gut konserviert im Pariser Invalidendom; es gäbe also die Möglichkeit einer neuerlichen Autopsie, und da gab es auch schon konkrete Anfragen seit den 60er Jahren. Doch passiert ist nichts. Und ich bleibe dabei: So wie sich die Dinge darstellen, sind sie eben oft nicht.
Merken Sie in Ihrer Arbeit, wie wirkmächtig die Faszination Napoleon bis heute ist? Gerade auch wenn es um die letzten Geheimnisse seines Todes geht? Schuler: An Napoleon scheiden sich bis auf den heutigen Tag die Geister, sonst wären nicht mehr als eine Million Bücher über ihn geschrieben worden. Tatsächlich gibt es dabei immer eine starke verführerische Tendenz, Menschen zu polarisieren und so einzuordnen: Gut oder böse, schwarz-weiß, weil wir uns nach einem einheitlichen Bild einer Person sehnen. Aber wird man damit einem Menschen gerecht? Gerade Napoleon ist so vielfältig, er vereinigt Licht und Schatten extrem in sich. Den „guten“und den „bösen“Napoleon unter einen, seinen, berühmten Hut zu bekommen, ist wirklich schwierig.
Diagnose: Mord – was macht Sie da nun so sicher?
Schuler: Es ist das Gesamtbild aller Primärquellen und Forschungsergebnisse aus dem 20. und 21. Jahrhundert. Natürlich muss man auch auf Gegenthesen im Einzelnen eingehen. Aber es gibt schwerwiegende Fakten, und die haben Beweiskraft. 21 verschiedene Haarproben von Napoleon aus seiner Zeit auf Sankt Helena wurden untersucht. Sie weisen alle eine vier- bis 65-fach erhöhte Arsenkonzentration auf. Daran gibt es nichts zu rütteln. Außerdem: Napoleon war seit Mitte 1816 krank und wies 31 von 33 Symptomen einer Arsenvergiftung auf. Darunter Symptome, die bei Magenkrebs schlicht nicht vorkommen, zum Beispiel
Lichtempfindlichkeit und Taubheit. In Lehrbüchern der Toxikologie steht auch, dass eine chronische Arseneinnahme krebsauslösend sein kann. Und diese Magengeschwüre haben sich dann infolge der Arsenvergiftung ab 1819 entwickelt. Doch weder Arsen noch Magengeschwüre waren die letztendliche Todesursache. Napoleon liegt im Frühling 1821 todkrank und geschwächt im Bett. Dann wird ihm gegen den Rat des Leibarztes Antommarchi, zwei Tage vor dem Tod, das Medikament Kalomel verabreicht, in zehnfach erhöhter Dosis. Übrigens auf den Rat Montholons hin, der ihm am liebsten noch eine zweite zehnfach überhöhte Dosis geben lassen wollte. Das um ein Vielfaches überdosierte Medikament gibt Napoleon den letzten Stoß. Es war also ein Dreiklang, aber am Anfang steht, dass Montholon über Jahre hinweg seinem Wein bewusst Arsen beigegeben hat.
Gibt es keine anderen Verdächtigen im Umkreis Napoleons?
Schuler: 51 Personen haben Napoleon in „Longwood House“auf Sankt Helena umgeben, seine engste Entourage. Nur sie hatten Gelegenheit, ihm das Gift einzuflößen. Alles Weitere erklärt sich im Ausschluss: Montholon war der Einzige, der von 1815 bis 1821 ununterbrochen in nächster Nähe Napoleons war. Montholon war auch der einzige offensichtlich zwielichtige Charakter vor Ort. Er hatte seine Biografie, so würde man heute sagen, „gefaked“: Er behauptete, er hätte bei napoleonischen Schlachten durch militärische Heldentaten geglänzt, bei Hohenlinden, bei Jena. Tatsache ist: Er war nicht dort. Er hat sich 1814 durch ein Attest vor dem Militärkriegsdienst gedrückt. Als er dann später unter den Bourbonen eine Anstellung bekam, stahl er 6000 Francs aus der Regimentskasse. Und er war Glücksspieler. Eine dubiose Figur.
Absolute Sicherheit könnte man aber erst gewinnen, würde man Napoleons Leichnam nochmals untersuchen? Schuler: Meiner Meinung nach
hat das, was wir wissen, schon Beweiskraft. Aber solange der Leichnam nicht neuerlich untersucht wird, wird es immer Zweifel geben, weil der Mensch eben glaubt, was er glauben will. Und das deckt sich oft nicht mit objektiv überprüfbaren Fakten.
Am Ende bleibt für uns heute die Frage: Wer war Napoleon? General, Kaiser, Usurpator, Diktator ...?
Schuler: Diktator würde ich nie sagen. Sie müssen betrachten, welche politischen Systeme in ganz Europa zur Zeit Napoleons herrschten. In Russland waren mehr als 95 Prozent der Bevölkerung Leibeigene, das heißt Sklaven. In Spanien gab es noch die Inquisition, und Metternich baute einen der schlimmsten Polizeistaaten aller Zeiten auf. Wenn Sie das vergleichen, können Sie Napoleon nicht als Diktator bezeichnen. Unter Napoleon gab es durch den Code civil für den einfachen Bürger so viele Rechte, die es zuvor nie gegeben hatte, und die es in keinem anderen europäischen Land auch nur ansatzweise gab. Auch nicht in England.
Wie sollten wir uns an ihn erinnern? Schuler: Eine historische Persönlichkeit kann man immer nur im Kontext der jeweiligen Zeit betrachten. Napoleon schloss 1801 und 1802 mit ganz Europa Frieden, und diesen Frieden wollte er dauerhaft bewahren. Doch England begann 1803 diesen Krieg mit einem Überfall auf 1600 friedlich in den Häfen liegende Handelsschiffe erneut, weil Napoleon einen Handelsvertrag ablehnte, der gut für die Engländer und schlecht für Frankreich gewesen wäre. Das kann man ihm moralisch meines Erachtens weiß Gott nicht krumm nehmen. Napoleon war besser als sein Ruf, als er im kollektiven Bewusstsein verankert ist. Andererseits war er definitiv auch keine reine Lichtgestalt der Geschichte. Er hat den Nürnberger Buchhändler Johann Philipp Palm, einen dreifachen Familienvater, hinrichten lassen, weil er eine antifranzösische Flugschrift verlegt hat. Das ist menschlich, verzeihen Sie, unter aller Sau.
Wie begehen Sie nun den 5. Mai 2021? Schuler: Ich bin kein glühender Bewunderer von Napoleon und habe einen gesunden inneren Abstand. Um 8.15 Uhr habe ich ein Livegespräch im Deutschlandradio Kultur zu diesem Thema. Danach kümmere ich mich um das wirklich Wichtige und gehe mit meiner zwei Jahre alten Tochter in einen alten Wald und zeige ihr an einem verwilderten, versteckten Teich die frisch geschlüpften Enten.
Interview: Veronika Lintne
Thomas Schuler ist Historiker und Napoleonexperte. Für sein neues tes Buch „Auf Napoleons Spuren. Eine Reise durch Europa“reiste der Ulmer von Trafalgar bis Moskau zu Originalschauplätzen (Verlag C. H. Beck). Infos: www.aufnapoleonsspuren.de