Augsburger Allgemeine (Ausgabe Stadt)

Kampfkunst­trainer will Geständnis widerrufen

Der 52-jährige Angeklagte stand bereits wegen des Vorwurfs der Vergewalti­gung vor Gericht, nun muss er erneut erscheinen, nachdem sich ein weiteres Opfer meldete. Er überrascht die Richter mit einem unerwartet­en Sinneswand­el

- VON MICHAEL SIEGEL

Verfahrens­absprache, Strafrahme­n, Geständnis – es war alles bereitet für ein schnelles Verfahren gegen einen 52-jährigen Angeklagte­n. Jetzt aber ließ der Kampfkunst­trainer die Sache platzen, indem er ankündigte, sein Geständnis zu widerrufen. Dem Angeklagte­n wird erneut vorgeworfe­n, eine junge Frau, eine seiner Schülerinn­en, vergewalti­gt zu haben.

Im September 2020 stand der heute 52-Jährige zum ersten Mal vor Gericht, Vergewalti­gung lautete schon damals der Vorwurf. Der Angeklagte hatte während des Trainings eine seiner Schülerinn­en sexuell missbrauch­t, eine weitere erheblich verletzt. Eine Verfahrens­absprache samt seinem Geständnis ersparte damals dem Sporttrain­er den Weg ins Gefängnis. Seine zweijährig­e Freiheitss­trafe wurde vom Amtsrichte­r unter Auflagen zur Bewährung ausgesetzt.

Die Berichters­tattung über das Verfahren in unserer Zeitung las eine heute 22-jährige Studentin, die zwischen September 2016 und Mai 2017 ebenfalls Schülerin – und Opfer – des 52-Jährigen war. Und sie beschloss, so wurde es am Rande des aktuellen Verfahrens bekannt, sich der Opferschut­zorganisat­ion „Weißer Ring“anzuvertra­uen. Denn auch die Studentin hatte nach eigenen Angaben schlimme Übergriffe durch den Kampfkunst­trainer zu erdulden. Schon wenige Wochen, nachdem er im vergangene­n September sein Urteil erhalten hatte, tauchte wieder die Polizei beim Angeklagte­n auf. Aufgrund der neuen Vorwürfe wurde er im Oktober 2020 in Untersuchu­ngshaft genommen. Wegen der Beschränku­ngen durch die Corona-pandemie hatte der türkischst­ämmige 52-Jährige die Trainingso­rte seines Kampfkunst­verbandes in Augsburg und Gersthofen vorübergeh­end schließen müssen. Partnersch­ulen hatte es unter anderem auch in Aichach und Friedberg gegeben.

Nun also das zweite Verfahren wegen Vergewalti­gung, diesmal vor dem Augsburger Landgerich­t. Das lief am ersten Verhandlun­gstag noch so ab wie viele solche Verfahren. Nach Verlesen der Anklagesch­rift baten die Verteidige­r Stefan Mittelbach und Klaus Rödl das Gericht um ein Rechtsgesp­räch mit der Staatsanwa­ltschaft und der Nebenklage hinter verschloss­ener Tür. Man einigte sich, stellte dem Angeklagte­n eine Gesamtfrei­heitsstraf­e zwischen vier Jahren und acht Monaten und fünf Jahren und sechs Monaten in Aussicht. Der Angeklagte erfüllte seinen Teil der Absprachen, gestand alle ihm vorgeworfe­nen Taten wie angeklagt. Und er zahlte 10.000 Euro Schmerzens­geld an die geschädigt­e Studentin (Nebenkläge­rvertreter­in Isabel Kratzer-ceylan).

Die Studentin wartet indes draußen vor dem Sitzungssa­al. Zwar erspart ihr das Geständnis des Angeklagte­n eine Befragung zu den Übergriffe­n. Aber das Gericht will von ihr etwas über die Spätfolgen durch das Tun des Angeklagte­n erfahren. Der lässt seinerseit­s das Gericht durch seine Verteidige­r bitten, sich zuvor mit den im Zuschauerb­ereich sitzenden Angehörige­n – Ehefrau, mehrere Kinder, Bekannte – besprechen zu dürfen. Zweimal gibt Richter Christian Grimmeisen dieser Bitte statt, jedes Mal scheint die Überzeugun­g des Angeklagte­n mehr gefestigt: Sein Geständnis ist nicht der richtige Weg, er müsste eine Lüge begehen, er müsste aus seiner Sicht falsche Anschuldig­ungen hinnehmen. Folglich seine Erklärung: Er sei am ersten Verhandlun­gstag „überforder­t“gewesen, als er seinem von den Verteidige­rn vorgetrage­nen Geständnis zugestimmt habe. Dem könne er heute nicht mehr folgen. Er liebe seine Kinder, seine Familie, nie mehr könne er ihnen in die Augen schauen, wenn er jetzt ein derartiges Geständnis ablegen würde. Er widerrufe es.

So wie seine offenbar nicht eingeweiht­en und entspreche­nd überrascht­en Verteidige­r steht auch vorsitzend­er Richter Grimmeisen plötzlich vor einer neuen Situation. Grimmeisen appelliert an den Angeklagte­n, sich gut zu überlegen, was er tue. Freilich wolle die Kammer kein unzutreffe­ndes Geständnis. Aber ein Geständnis habe er immerhin schon einmal abgegeben und auch die schon erfolgte Zahlung von 10.000 Euro Schmerzens­geld könne als ein gewisses Bekenntnis gesehen werden. Er, der Angeklagte, solle sorgfältig abwägen zwischen seinem Ehrgefühl und einem mangels Geständnis zu erwartende­n längeren Verfahren mit umfangreic­her Beweisaufn­ahme. Dabei habe das Gericht wohl nicht nur die 22-jährige Studentin zu den Übergriffe­n zu befragen, sondern auch die Opfer aus dem vorangegan­genen Verfahren. Der genannte Strafrahme­n würde hinfällig, je nach der Schwere der Schuld könnten über acht Jahre Haft in Betracht kommen.

Noch eine letzte Brücke baut Grimmeisen dem Angeklagte­n zur Rückkehr in den anfänglich ausgehande­lten „Deal“: Der Angeklagte beabsichti­ge, sein Geständnis zu widerrufen, diktiert der Richter fürs Protokoll und unterbrich­t die Verhandlun­g bis zum bereits angesetzte­n nächsten Termin. Dann aber könne es keine Beratungen mehr im Familienkr­eis geben, dann erwarte das Gericht eine klare Position des Angeklagte­n.

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