Augsburger Allgemeine (Ausgabe Stadt)
Reisen nur noch aus Lust
Wollen wir, nachdem wir im Laufe der Pandemie das eigene Land ganz neu entdeckt haben, überhaupt noch in die Welt reisen? Oder ist nach Monaten des Spazierengehens und Radelns in den Wäldern und Wiesen vor der Türe die Sehnsucht nach der Ferne doch übermächtig und wir wollen, so schnell es geht, wieder weg? „Ich glaube Letzteres“, sagt Harald Welzer. „Im Bereich Urlaub ist der Wunsch nach einer Rückkehr in die erlebte Normalität schon sehr groß.“
Alles also wie früher? Ab in den Flieger, weil das freie Wochenende doch nahezu nach einem kleinen Trip nach London oder Lissabon schreit? Und was ist mit der Nachhaltigkeit, der Flugscham, der Klimabilanz? Jürgen Schmude, Professor für Wirtschaftsgeografie und Tourismusforschung an der Ludwig-maximilians-universität in München, glaubt, dass sich das Reiseverhalten durchaus verändern wird – mehr Reisen mit dem Auto, eher im Inland oder ins nahegelege Ausland, gerne auch Outdoor. Aber nicht, weil den Menschen plötzlich mehr am nachhaltigen Reisen liegt.
Ach, geht ja mit dem Rad
Doch im Alltag stellt sich oft eine andere Frage: Nicht Flieger oder Schiff, sondern Auto oder Bus? Die Automobilindustrie wird, glaubt man Welzer, radikal umgekrempelt und von einer enormen Schrumpfung betroffen sein. Aber will noch jemand in Bus und Bahn steigen, galten sie nicht plötzlich als Virenschleudern? Harald Welzer gibt zu, dass solche Voraussagen sehr schwierig zu treffen sind. Aber es wird immer Menschen geben, die auf einen öffentlichen Nahverkehr angewiesen sind. Welzer kann sich gut vorstellen, dass der öffentliche Nahverkehr eher vor der Herausforderung steht, attraktiver, individueller, komfortabler zu werden.
Virologen lenken die Politik
Wer hätte je gedacht, dass ein ganzes Land einmal auf die Virologen hört? Ja dass wir ein Land von Hobbyvirologen werden? Bleibt das? „Wir haben in der Wissenschaft immer Wellenbewegungen“, sagt Welzer. „Erinnern wir uns daran, welchen Boom vor ein paar Jahren die Hirnforschung erfahren hat. Jetzt hat die Virologie Hochkonjunktur. Insgesamt hat die Pandemie zu einer Aufwertung der Wissenschaft geführt. Das war vertrauensbildend für die Mehrheit der Menschen. Die Virologen hatten ja auch fast immer recht.“
So sieht es auch Cornelius Borck von der Uni Lübeck. Die Wissenschaft ist in den Fokus der Aufmerksamkeit gerückt. Was ihn gewundert hat: In seiner Wahrnehmung habe es keine theologische Antwort auf die Pandemie gegeben, obwohl es doch eigentlich Aufgabe der Religion ist, genau auf diese großen, drängenden Fragen zu antworten. „Die Wissenschaft aber hat die Antwort geliefert.“
Was Harald Welzer derzeit auch erkennt: „Ich sehe einen erheblichen Verlust an Politikvertrauen. Das ist für die Demokratie generell schlecht. Die Politik täte gut daran, viel stärker anzuerkennen, dass sie es mit einer vernunftbereiten, aufgeklärten Mehrheitsbevölkerung zu tun hat.“