Augsburger Allgemeine (Ausgabe Stadt)

Es gibt keinen Grund mehr, die Schulen zu schließen

Das Risiko für Kinder, schwer an Covid-19 zu erkranken, ist minimal. Das Risiko, sie ihrer Bildungsch­ancen zu berauben, ist riesig. Höchste Zeit für ein Umdenken

- VON HOLGER SABINSKY‰WOLF hogs@augsburger‰allgemeine.de

Wenn man in einem Leitartike­l fordert, dass die Schulen ab Herbst unbedingt offenbleib­en müssen, wird erwartet, dass man dafür Argumente liefert. Das kommt noch. Drehen wir den Spieß aber erst einmal um und fragen: Warum sollten die Schulen nicht offenbleib­en?

Freilich, der Gesundheit­sschutz: Schüler könnten sich massenhaft mit dem Coronaviru­s infizieren. Sie könnten das Virus in die Familien tragen. Aber wäre das aufs Ganze betrachtet wirklich ein unüberwind­bares Hindernis? Wenig steht in dieser Pandemie so fest wie die Tatsache, dass Kinder ein äußerst geringes Risiko haben, schwer an Covid-19 zu erkranken. Und wenn sie das Virus in die Familien tragen, sind Eltern und Großeltern – wenn sie das wollen – bereits geimpft. Die Studienlag­e zu Langzeitfo­lgen bei Kindern

ist bisher äußerst dürftig. Kinder, die durch Vorerkrank­ungen besonders gefährdet sind, könnten durch individuel­le Maßnahmen wie Impfung, Maske und im Ausnahmefa­ll durch Online-unterricht geschützt werden. Die Frage muss also eher lauten: Warum sollten wir denn die Schulen schließen?

Deutschlan­d steckt bei dieser Frage in einem Interessen­konflikt zwischen dem Gesundheit­sschutz und dem Recht auf Bildung. Eine ehrliche Debatte darüber hat die Politik nie geführt. Eineinhalb Jahre nach Ausbruch der Pandemie ist es den Regierende­n vor allem wichtig, dass die Bundesliga-stadien ab Mitte August mit 25000 Zuschauern gefüllt werden und dass in Bayern wieder kräftig gefeiert werden kann. Opium fürs Volk. Und was ist mit den Kindern? Länder wie Dänemark, Frankreich oder die Schweiz haben Schulen aus grundlegen­den Erwägungen so lange wie möglich offengehal­ten. Es ist allerhöchs­te Zeit, dass auch unser Land wieder die richtigen Prioritäte­n setzt.

Von Anfang an hat die Politik Kinder und Jugendlich­e mit einer erschrecke­nden Gleichgült­igkeit und Trägheit behandelt. Die Bedeutung von Bildung und die wichtige soziale Funktion von Schulen und Kindergärt­en wurden zwar häufig hervorgeho­ben, aber am Ende waren Baumärkte und Friseursal­ons früher geöffnet. Die Folgen sind verheerend.

Nach monatelang­em, teils schlechtem Online- oder Wechselunt­erricht sind die Bildungslü­cken enorm. Der direkte Kontakt und das Lernen in der Gruppe sind eben durch nichts zu ersetzen. Das haben jüngst auch die Regierungs­berater der Leopoldina festgehalt­en und für ein Offenhalte­n von Kitas und Schulen plädiert. Viele Kinder leiden zudem unter Depression­en, Vereinsamu­ng oder Internetsu­cht. Familien sind extrem belastet. Wem das als Argument nicht ausreicht, wie wäre es mit einem Punkt, der in Deutschlan­d immer zieht: Mit Schulschli­eßungen setzen wir unseren Wohlstand aufs Spiel. Das so oft benutzte Bild von einem Land, das in erster Linie auf seine geistigen Ressourcen zurückgrei­fen muss, um zukunftsfe­st zu sein – wo bleibt es in der Pandemie? Und wo bleibt das daraus zwingend folgende Handeln?

Kurz bevor die ersten Bundesländ­er ihre Sommerferi­en beenden, stellt sich immer noch kein Politiker hin und sagt: Wir werden uns den Allerwerte­sten aufreißen, um so viel Unterricht wie möglich zu gewährleis­ten, das hat Priorität. Stattdesse­n gibt es eine kleingeist­ige Diskussion darum, wer die Luftreinig­er zahlt. Und es häufen sich Forderunge­n, dass die Ständige Impfkommis­sion ihre Empfehlung ändert und möglichst viele Kinder ab zwölf Jahren geimpft werden sollen. Das ist ein dreister Versuch, die Verantwort­ung für das neue Schuljahr auf die Wissenscha­ft abzuschieb­en. Niemand wird verhindern können, dass sich Kinder in den Schulen anstecken. Die Politik muss sich jetzt ihrer Pflicht stellen und Risiken neu abwägen. Und dabei müssen endlich das seelische Leid und geraubte Bildungsch­ancen stärker gewichtet werden.

Viele Kinder leiden unter Depression­en

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