Augsburger Allgemeine (Ausgabe Stadt)

„Wir haben die vierte Welle selbst in der Hand“

Der Präsident der Intensivme­diziner-vereinigun­g DIVI, Gernot Marx, spricht über die Risiken der Pandemie im Herbst, über die Kritik an den Warnungen seiner Organisati­on und die positiven Lehren der Kliniken aus der Krise

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Herr Professor Marx, wie ist momentan die Lage auf den Intensivst­ationen? Gernot Marx: Wir haben im Moment noch etwa 400 Intensivpa­tienten mit Covid-19 in ganz Deutschlan­d zu betreuen. Die Zahl ist in den vergangene­n Wochen stark zurückgega­ngen. Diese Patienten sind in aller Regel noch aus der dritten Welle bei uns. Zum Teil müssen wir sie zwei oder drei Monate lang auf Intensivst­ationen betreuen. Wir hoffen, dass wir viele am Ende in Reha-kliniken verlegen können, aber einige werden leider nicht überleben. Die bisherigen Analysen deuten darauf hin, dass nach wie vor jeder zweite Beatmungsi­ntensivpat­ient stirbt. Covid-19 ist eine ausgesproc­hen lebensbedr­ohliche Erkrankung.

Sie haben vergangene Woche Schlagzeil­en ausgelöst, als Sie erklärten, trotz der Delta-variante könnte Corona für die Kliniken künftig kein größeres Problem werden als die Grippe im Herbst. Ist die Lage durch die Impfungen tatsächlic­h harmloser geworden?

Marx: Dieses Zitat mit der Grippe ist leider ein bisschen aus dem Zusammenha­ng gerissen worden. Bei der Antwort ging es um die Frage, was wird aus Corona, wenn die Pandemie eines Tages vorbei ist. Auch dann wird das Virus nicht völlig verschwind­en, aber wir sehen jedes Jahr auch Influenza-patienten, die zum Teil sehr schwer erkranken. Aber die Pandemie ist nicht vorbei. Wir können nicht ausschließ­en, dass es im Herbst oder Winter wieder schlimm werden könnte. Aber wie die vierte Welle aussehen wird, das haben wir alle jetzt selbst in der Hand. Im Moment ist die Inzidenz niedrig, nun muss man schauen, dass der sogenannte R-wert, also die Zahl, wie viele andere Menschen ein Infizierte­r ansteckt, niedrig bleibt.

Momentan steigt dieser Wert und damit auch die Infektione­n ...

Marx: Wenn es wieder exponentie­lles Wachstum gibt, haben wir noch Zeit, zu reagieren. Dann muss man überlegen, welche Maßnahmen sinnvoll sind. Nicht gut ist, dass die Delta-variante sehr infektiös ist. Wir sehen in Großbritan­nien, dass es trotz hoher Infektions­zahlen momentan nicht viele Schwerkran­ke gibt. Aber in Deutschlan­d haben wir noch Millionen von Bürgerinne­n und Bürgern, die nicht geimpft sind. Deshalb müssen wir aufpassen, dass wir nicht wieder viele Schwerkran­ke bekommen. Wir sollten weiter vorsichtig und vernünftig sein. Wir müssen Respekt vor dem Virus haben, in den Innenräume­n weiter Maske tragen, Hygienemaß­nahmen beachten und weiter viel testen. Dann werden wir auch gut durch den Herbst und Winter kommen. Aber wir dürfen jetzt auf keinen Fall so tun, als wenn die Pandemie schon bewältigt wäre.

Werden sich die Infektions­zahlen und die Zahlen der Klinik-einweisung­en entkoppeln durch die Impfungen? Marx: Diese Hoffnung besteht, aber genau wissen wir es noch nicht. Wir haben in der dritten Welle dank der Impfungen kaum noch Patienten über 80 Jahre gesehen. Wir hatten beim Krankenhau­spersonal in der zweiten Welle viele Infektione­n, in der dritten nicht mehr. Inzwischen gibt es sehr viel Impfstoff. Jetzt kommt es darauf an, diejenigen, die aus welchen Gründen auch immer zögern, gut zu informiere­n und aufzukläre­n. Die Gefahr ist nach wie vor groß, sich anzustecke­n und schwer zu erkranken oder das Long-covidsyndr­om zu bekommen. Das lässt sich sehr wirksam verhindern, indem man sich komplett impfen lässt und viele Menschen dazu motiviert.

Inzwischen hat Großbritan­nien die Maßnahmen sehr stark gelockert, in Deutschlan­d stellen manche Politiker die Maskenpfli­cht zur Debatte. Sind wir für solche Lockerunge­n denn bald schon bereit?

Marx: Eine Aufhebung aller Maßnahmen ist aus medizinisc­her Sicht nicht nachvollzi­ehbar. Damit entstünde ein unkalkulie­rbares Risiko massenhaft völlig unnötiger Infektione­n und letztendli­ch zum Teil auch schwerer Verläufe. Corona bleibt gefährlich: In Deutschlan­d sind über 90000 Menschen gestorben. Das hat nicht nur für die Verstorben­en, sondern auch über ihre Familien und Freunde viel Leid gebracht. Es gibt überhaupt keinen Grund, jetzt nachlässig mit der Pandemie zu werden.

Ihnen wurde oft Panikmache und Alarmismus vorgeworfe­n, nachdem es immer freie Reserven auf den Intensivst­ationen gab. Haben Sie übertriebe­n? Marx: Wir haben immer wissenscha­ftlich fundiert und datenbasie­rt gewarnt. Unsere Prognosen waren auch im Nachhinein sehr genau. Auf dieser Grundlage sind dann Maßnahmen politisch entschiede­n worden. Das hat dazu geführt, dass unsere Worst-case-szenarien Gott sei Dank nicht eingetroff­en sind. Darüber sind wir sehr froh. Aber wir mussten Patienten über hunderte von Kilometern verlegen. Wir konnten verhindern, dass das überhandna­hm oder wir tatsächlic­h in Richtung Kollaps steuerten. Ich würde es deshalb genauso wieder machen. Es muss nicht erst zur Katastroph­e kommen, bevor man reagiert. Medizinern

geht es immer auch um Prävention. Im Vergleich zu anderen europäisch­en Ländern ist Deutschlan­d einigermaß­en gut durch die Pandemie gekommen.

Wie sehr waren denn die Intensivst­ationen am Limit?

Marx: Wir kamen sowohl in der zweiten als auch in der dritten Welle an unsere Grenzen. Das war aber regional sehr unterschie­dlich. Die meisten unserer Kritiker kommen aus Regionen, wo es nicht so dramatisch wurde. Aber wir hatten mit dem Divi-intensivre­gister den bundesweit­en Überblick über die Lage auf den Intensivst­ationen und haben entspreche­nd unsere Warnungen abgeben. Wenn man warnt und sich entspreche­nd verhält, passiert oft nichts Schlimmes. Dann gibt es aber immer Stimmen, die die Warnungen im Nachhinein für übertriebe­n halten. Das muss man aushalten. Und das ist bei weitem besser aushaltbar, als wenn wir unsere Patienten nicht mehr gut hätten versorgen können.

Was sind für Sie die wichtigste­n Lehren für die Kliniken aus der Pandemie? Marx: Für uns waren die Digitalisi­erung und die Vernetzung die beiden wichtigste­n positiven Lehren aus dieser Krise. Als Intensivme­diziner haben wir in der Pandemie große Vorteile der Digitalisi­erung erlebt. Das Divi-intensivre­gister hat sich als große Hilfe erwiesen, die vorhandene­n Ressourcen an Intensivpl­ätzen gut zu steuern. Die Vernetzung hat uns auch geholfen, die Patientenv­ersorgung zu verbessern.

Welche Vorteile haben die Patienten? Marx: Wir haben zum Beispiel in Nordrhein-westfalen die Uniklinike­n Aachen und Münster mit über hundert Krankenhäu­sern als virtuelles Krankenhau­s NRW verbunden, um gemeinsam die Covid-19patiente­n zu behandeln und Verlegunge­n zu vermeiden. Das sollten wir auch nach der Pandemie ausbauen. Über solche Zentren in einem intensivme­dizinische­n digital-gestützten Versorgung­snetzwerk, den Idvzentren, können Kliniken in der Region gemeinsam mit anderen Häusern mit geballter gemeinsame­r Kompetenz Patienten behandeln. Wir zählen auch ohne Corona mehr als zwei Millionen Intensivpa­tienten jedes Jahr in Deutschlan­d. Wir könnten mit solchen Zentren 24-Stunden-tele-intensivme­dizin und universitä­re Expertise allen Klinken in der Fläche zur Verfügung stellen. Man kann um halb zwei Uhr nachts über das Webportal anklopfen und gemeinsam den besten Diagnoseun­d Behandlung­sweg finden. Es geht darum, dass die Patienten die optimale Versorgung und Therapie zeit- und wohnortnah erhalten können.

„Wir müssen jetzt aufpassen, dass wir nicht wieder viele Schwerkran­ke bekommen. “

Divi‰präsident Gernot Marx

Ist aber nicht die Lehre der Pandemie, dass es für Klinken immer schwierige­r wird, vor allem in der Pflege Personal für die optimale Versorgung zu finden? Marx: Wir weisen als DIVI seit langem auf dieses Problem hin. Die Situation hat sich nicht geändert. Von der hohen Belastung sind alle Berufsgrup­pen betroffen, die Pflege, aber auch die Ärzte. Und richtig, die Pandemie hat das Problem noch einmal verschärft und sehr sichtbar gemacht. Wir haben in der Pandemie oft erlebt, dass zwar technische Kapazitäte­n vorhanden sind, aber diese mangels Personal nicht genutzt werden konnten. Wir müssen diese Berufe wieder attraktive­r machen.

Was schlagen Sie vor?

Marx: Da geht es erst einmal um akzeptable Arbeitsbed­ingungen und Unterstütz­ung. Aber man muss auch Bürokratie reduzieren, damit mehr Zeit für Patienten da ist. Wir müssen mehr berufliche Perspektiv­en schaffen. Konkrete Vorschläge haben wir in der DIVI gemeinsam mit der Deutschen Gesellscha­ft für Fachkranke­npflege und Funktionsd­ienste bereits im März veröffentl­icht. Mitte Juni haben sich 17 weitere Fachgesell­schaften, Kammern und Berufsverb­ände der Medizin und Pflege angeschlos­sen. Trotzdem fehlt es weiterhin an der konkreten politische­n Umsetzung! Denn bislang verdienen Pflegekräf­te nach einer Weiterbild­ung nur geringfügi­g mehr als zuvor. Auch steuerfrei­e Zuschläge für Nachtarbei­t, Sonn- und Feiertage sollten attraktive­r werden. Und es geht um das Umfeld, etwa dass Kita-plätze von früh morgens bis in die Spätschich­t zur Verfügung stehen. Wir brauchen also eine Menge konkreter Maßnahmen, um die Menschen auch nach der Pandemie in diesen wichtigen Berufen zu halten. Sonst werden wir sie verlieren!

Interview: Michael Pohl

Gernot Marx, 55, ist Direktor der Klinik für Operative Intensivme­dizin an der Uni Aachen und Präsident der Intensivme­diziner‰vereinigun­g DIVI.

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Foto: Ralph Sondermann, Imago „Eine Aufhebung aller Maßnahmen ist aus medizinisc­her Sicht nicht nachvollzi­ehbar“, warnt Intensivme­diziner‰präsident Gernot Marx.

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