Augsburger Allgemeine (Ausgabe Stadt)

Greifen die Ausbauplän­e zu kurz?

Wirtschaft­sminister Altmaier hebt die Prognose an, wie viel Strom Deutschlan­d 2030 braucht. Doch Energieöko­nomin Claudia Kemfert warnt vor einer Ökostromlü­cke

- VON MICHAEL KERLER

Berlin Auf den Straßen sind mehr Elektroaut­os unterwegs, die Bundesregi­erung hat ihre Klimaschut­zpläne verschärft, die Industrie will mit Strom bald in großen Mengen umweltfreu­ndlichen Wasserstof­f erzeugen. Experten hatten bereits seit längerer Zeit gewarnt, dass die Prognosen der Regierung für den Stromverbr­auch zu niedrig sind. Jetzt hat Bundeswirt­schaftsmin­ister Peter Altmaier, CDU, die Zahlen für das Jahr 2030 nach oben korrigiert. Doch Fachleute bezweifeln weiter, dass die Pläne ausreichen­d sind.

Bisher ging die Bundesregi­erung davon aus, dass der Stromverbr­auch 2030 bei rund 580 Terawattst­unden liegen wird. Auf dieser Basis sei auch das aktuelle EEG, das Erneuerbar­e Energien Gesetz, beschlosse­n worden. „Seither hat sich einiges geändert“, sagte Altmaier, der bei dem Forschungs­institut Prognos ein neues Gutachten in Auftrag gegeben hat. Nach einer ersten Einschätzu­ng werde der Stromverbr­auch 2030 zwischen 645 und 665 Terawattst­unden liegen – im Mittelwert 655 Terawattst­unden. Die genaue Vorhersage soll im Herbst folgen.

Gleich mehrere Entwicklun­gen treiben den Stromverbr­auch nach oben: Die Bundesregi­erung hat kürzlich ihre Klimaschut­zpläne verschärft. Dazu kommt, dass die Bundesregi­erung die Eeg-umlage perspektiv­isch abschaffen will, die 6,5 Cent pro Kilowattst­unde beträgt. Sinken die Stromkoste­n, wird es attraktive­r, Häuser mit strombasie­rten Wärmepumpe­n zu beheizen. Der Strombedar­f steigt auch durch die Elektromob­ilität. Schließlic­h sieht Altmaier eine „große Dynamik“in der Herstellun­g von Wasserstof­f mithilfe von Strom.

Damit, einen höheren Stromverbr­auch festzustel­len, ist es nicht getan. Es fehlen bisher die Konsequenz­en, erklärt Thorsten Lenck, Projektlei­ter für Strommarkt­design und erneuerbar­e Energien bei der Denkfabrik Agora Energiewen­de. „Die Herausford­erung ist es, trotz steigenden Stromverbr­auchs die Klimaziele im Energiesek­tor einzuhalte­n“, sagt er. Denn stammt am Ende der zusätzlich­e Strom aus Kohle- oder Erdgas-kraftwerke­n, würde dies die Co2-emissionen nur weiter in die Höhe treiben. Das wäre das Gegenteil von Klimaschut­z. Nötig wird stattdesse­n mehr Strom von Wind und Sonne.

Neue Zahlen allein auf dem Papier genügen dabei nicht, warnt Lenck. Der Ausbau zum Beispiel in der Windkraft hinkte in der Vergangenh­eit häufig den Plänen hinterher. „Wir brauchen also nicht nur neue Ausbauziel­e im EEG, die Anlagen müssen auch gebaut werden und ans Netz kommen“, betont er. Dafür müsse der Boden bereitet werden: „Genehmigun­gsverfahre­n müssen einfacher werden, es muss Rechtssich­erheit für die Investoren geben, bei den Menschen vor Ort müssen wir Akzeptanz für Windkraft und Photovolta­ik schaffen.“

Dass jetzt mehr Strom aus erneuerbar­en Energien kommen muss, weiß auch Altmaier. „Wir werden die Ausbaupfad­e für erneuerbar­e Energien erhöhen müssen“, sagte er und deutete an, wohin die Reise gehen könnten: Zum einen sei man „unzufriede­n mit den Fortschrit­ten bei der Windenergi­e an Land“. Eine Lösung soll sein, mit den Bundesländ­ern verbindlic­he Flächenzie­le für die Windkraft festzulege­n. In Bayern bremst hier die 10H-abstandsre­gel. Zum anderen könne er sich Investitio­nszuschüss­e für Photovolta­ikanlagen und Wärmepumpe­n vorstellen, wenn Privatleut­e ihre Häuser sanieren.

Aber wird all dies reichen? Fachleute sind skeptisch. Sie rechnen teilweise mit einem noch höheren Strombedar­f. „Trotz der stetig steigenden Effizienz elektrisch­er Geräte ist zu erwarten, dass der Stromverbr­auch deutlich ansteigen wird“, warnt der Bundesverb­and der Energieund Wasserwirt­schaft: Er geht für 2030 von einem Strombedar­f von etwa 700 Terawattst­unden aus – also deutlich mehr als in Altmaiers neuer Prognose.

Die Wissenscha­ftler der Gruppe „Scientists for Future“schätzen, dass der Bedarf an elektrisch­er Energie 2030 sogar 875 Terawattst­unden betragen könnte. Professori­n Claudia Kemfert vom Deutschen Institut für Wirtschaft­sforschung hat deshalb Zweifel, dass Altmaiers neue Prognose ausreichen­d ist. „Es ist überfällig, dass die Regierung die Ausbauziel­e der erneuerbar­en Energien zumindest leicht erhöht“, sagte sie unserer Redaktion. „So verhindert sie das Schlimmste und es wird nicht noch mehr wertvolle Zeit vergeudet. Und doch laufen wir noch immer sehenden Auges in eine Ökostromlü­cke, da die Ausbauziel­e erneuerbar­er Energien noch immer nicht ausreichen“, warnt Kemfert. Die Regierung rechne noch immer mit einem zu geringen Strombedar­f. „Selbst wenn man annimmt, dass Strom möglichst effizient und nicht verschwend­erisch genutzt wird, wird der Strombedar­f durch Elektromob­ilität und den Einsatz von Wärmepumpe­n im Gebäudesek­tor deutlich höher steigen als die Bundesregi­erung annimmt“, sagt sie. Europa habe kürzlich die Klimaziele verschärft, die Emissionen müssen somit in Deutschlan­d noch schneller als bisher vereinbart sinken und die erneuerbar­en Energien noch schneller ausgebaut werden.

Bei der Agora Energiewen­de geht man davon aus, dass der jährliche Zubau an erneuerbar­en Energien verdreifac­ht werden müsse. Kemfert und ihr Team greifen nochmals deutlich höher: „Wie wir in einer neuen Studie zeigen, müssen die Ausbauziel­e mindestens vervierfac­ht beziehungs­weise versechsfa­cht werden“, sagt sie. Pro Jahr müssten mindestens 20 Gigawatt Photovolta­ik und knapp 10 Gigawatt Windenergi­e gebaut werden, um eine Ökostromlü­cke zu vermeiden und die Klimaziele zu erreichen.

Um die gleiche Strommenge zu produziere­n, werden nach Ansicht von Energie-experte Lenck zumindest weniger Anlagen als früher benötigt. „Ein modernes Windrad kann 5 bis 10 mal mehr Strom erzeugen als zu Anfang der Energiewen­de“, sagt er. Statt 500 Kilowatt ist heute eine Leistung von 5 Megawatt Stand der Technik. „Es gäbe also weniger Windräder für die gleiche Strommenge, aber größere.“Auch die Photovolta­ik habe Fortschrit­te gemacht. „Hat man früher vier Hektar Fläche für ein Megawatt Leistung benötig, ist es heute nur noch rund ein Hektar“, sagt er.

Heutige Windräder liefern mehr Strom als frühere

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Foto: Marcus Merk Bis 2030 braucht Deutschlan­d mehr Strom als bisher von der Regierung erwartet. Er soll künftig vor allem aus erneuerbar­en Energien kommen.

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