Augsburger Allgemeine (Ausgabe Stadt)

„Islamismus‰verdacht ist ein Irrweg“

Der Kriminolog­e Christian Pfeiffer hält die Bluttat von Würzburg für einen extremen Einzelfall und den Täter für psychisch gestört. Wie er die Rolle der Behörden beurteilt

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Professor Pfeiffer, was ist Ihnen als wirklich erfahrenem Kriminolog­en durch den Kopf gegangen, als Sie von dem Anschlag in Würzburg gehört haben, bei dem ein Mann drei Frauen mit einem Messer tötete?

Christian Pfeiffer: Ich war zunächst irritiert über die schnelle Einordnung als mögliche oder gar wahrschein­liche islamistis­che Terrortat. Was darüber zu lesen war, sprach nicht dafür. Immerhin hat Innenminis­ter Herrmann dann im Landtag deutlich gemacht, dass es keine klaren Belege für eine islamistis­ch motivierte Tat gibt. Nach jetzigem Stand der Dinge gehe ich davon aus, dass es sich beim Täter um eine durch Erfahrunge­n in Kindheit und Jugend psychisch massiv gestörte Person handelt. Dafür gibt es Hinweise ab dem ersten Tag seiner Ankunft in Deutschlan­d.

Die Staatsanwa­ltschaft spricht davon, dass ein islamistis­cher Hintergrun­d „naheliegen­d“sei. Wird der Verdacht von Ermittlern und Politik zu lange aufrechter­halten?

Pfeiffer: Eindeutig ja. Wenn man den Lebensstil des Täters betrachtet – er betet nicht, hält den Ramadan nicht ein, trinkt Alkohol, nimmt Drogen: Das alles spricht definitiv gegen einen im Glauben verwurzelt­en Muslim. Dass eine Islamismus-hypothese am Anfang geprüft werden musste, war völlig richtig. Aber nun wäre es klug, wenn sich auch die Staatsanwa­ltschaft offiziell davon verabschie­den würde. Vielmehr ist an der Biografie des Täters anzusetzen.

Könnte er eine islamistis­che Prägung schon während seiner Kindheit im Bürgerkrie­gsland Somalia erfahren haben?

Pfeiffer: Islamistis­che Prägung hieße Hass auf alle anderen Religionen. Eine solche religiös motivierte Hasseinste­llung war von ihm doch nicht zu hören. Dieser Ausruf „Allahu Akbar“, den er angeblich bei dem Messerangr­iff gemacht haben soll, ist kein Beweis für eine islamistis­che Terrortat. Dieser Kriegsruf mag ihm in seiner Kindheit und Jugend eingebläut worden sein. Aber das ist noch keine grundlegen­de islamistis­che Überzeugun­g.

Schließt eine psychische Unzurechnu­ngsfähigke­it eigentlich per se eine terroristi­sche Tat aus?

Pfeiffer: Nein, gar nicht. Eine psychische Erkrankung kann sich sehr wohl verbinden mit einer radikal islamistis­chen Grundeinst­ellung. Aber die ist hier schon wegen seines Lebensstil­s nicht erkennbar geworden. Von daher halte ich es für einen Irrweg, sich länger mit diesem Verdacht aufzuhalte­n. Man sollte schauen, was ihn geprägt hat. Er ist ja offenbar aufgefalle­n als jemand, der Wahnvorste­llungen und Aggression­en hatte.

Wissen wir zu wenig, was Geflüchtet­e an seelischen Schäden und Störungen mitbringen?

Pfeiffer: Das ist von Fall zu Fall unterschie­dlich. Die große Mehrheit versucht von Anfang an die Sprache zu lernen, eine Arbeit auszuüben, sich zu integriere­n – die Situation des Täters hier ist nicht typisch für Geflüchtet­e. Er ist ein Ausnahmefa­ll an massiver Verstörung, die nach allem, was wir wissen, schon vor seiner Ankunft in Deutschlan­d entstanden war. So ist nicht unwahrsche­inlich, dass er schon als Kind hineingezo­gen wurde in diesen Strudel des ewigen Krieges und dadurch geprägt wurde.

Aber bräuchten dann nicht Flüchtling­e mit solcher Herkunft mehr Betreuung und Führung?

Pfeiffer: Eine Betreuung kann solche psychische­n Störungen nur wirksam bekämpfen, wenn es eine richtige Traumather­apie ist. Diese aber setzt eine Kommunikat­ionsfähigk­eit voraus, über die der Täter auch heute offenbar nur sehr eingeschrä­nkt verfügt. Ein Therapeut hat nur dann eine Chance, wenn er emotional an diesen Menschen herankommt. Wenn man zuhören und sich differenzi­ert unterhalte­n kann.

Und doch hat man den Eindruck, er sei in Deutschlan­d durchs Raster gefallen und sich selbst überlassen worden. Haben die Behörden versagt?

Pfeiffer: Nein, ein mögliches Behördenve­rsagen kann ich nach wie vor nicht erkennen. Ich sehe keine systematis­chen Fehler in der Art, wie mit ihm umgegangen wurde. Der Mann hatte Betreuungs­angebote – aber er war offenkundi­g nicht in der Lage, sie aufzugreif­en. Die Klinik in Würzburg hat immer wieder kleine Erfolge erreichen können – durch Behandlung, durch Medikament­e. Aber sie konnte seine Grundprobl­ematik nicht stabil beseitigen, weil er nicht zugänglich war. Therapie setzt intensive Kommunikat­ion voraus. Und die Sprachfähi­gkeit konnte er nicht erlangen, weil er zu gestört hier angekommen ist.

Hätte man ihn nicht spätestens nach dem fünften Psychiatri­e-aufenthalt Mitte Juni zwangsweis­e behalten müssen?

Pfeiffer: Das Recht setzt für eine zwangsweis­e Unterbring­ung hohe Grenzen. Voraussetz­ung wäre eine fortbesteh­ende hohe Gefährlich­keit. Die aber war laut Klinik nach der jeweils eingetrete­nen Beruhigung des Patienten dann nicht mehr gegeben. Der Richter hätte deshalb keine Möglichkei­t gehabt, einem entspreche­nden Antrag stattzugeb­en. Die verständli­che Suche nach der Schuld für den Tod der drei Frauen muss sein. Aber ich entdecke keine Grundlage für einen Schuldvorw­urf gegenüber den Behörden. Und ob der Täter schuldfähi­g war, werden die Gutachter zu klären haben. Sie haben einen schweren Job.

Die Staatsanwa­ltschaft hat nach einem Messervorf­all vom Januar ermittelt, bekam aber keine Einsicht in die Krankenakt­e. Kostet der Datenschut­z am Ende Menschenle­ben?

Pfeiffer: Tatsächlic­h wirft das Fragen auf. Sollte das so gewesen sein, wird der Datenschut­z übertriebe­n. Wenn eine Staatsanwa­ltschaft die Gefährlich­keit eines Menschen, der andere mit einem Messer bedroht hat, aufklären soll, dann muss sie Zugang zu den Krankenakt­en bekommen. Sonst basiert eine Entscheidu­ng nicht auf allen zur Verfügung stehenden Erkenntnis­sen. Fehlt die Einwilligu­ng des Betroffene­n, könnte sie durch die Anordnung eines Richters ersetzt werden. Zu prüfen ist, ob die Rechtslage in Bayern dies zugelassen hätte. Falls nicht, scheint mir der Gesetzgebe­r gefordert, um für künftige Fälle einen besseren Zugang zu ermögliche­n.

Warum ist die Integratio­n des Täters eigentlich so misslungen?

Pfeiffer: Er war offenbar von Anfang an psychisch gestört, hatte Wutausbrüc­he, war nicht sehr interessie­rt an Angeboten, schlug Einladunge­n zum Deutschkur­s aus. Integratio­n kann aber nur gelingen, wenn der betroffene Mensch in der Lage ist, die Angebote auch wahrzunehm­en und mit aller Kraft hier Fuß zu fassen. Diese grundsätzl­iche Fähigkeit fehlte bei ihm. Es wird zu klären sein, ob dies aus seiner traumatisc­hen Verstörung aus Kindheit und Jugend herrührt. In einem solchen Fall können die Integratio­nsangebote noch so gut sein, sie erreichen den Menschen nicht.

Interview: Andreas Jungbauer

Christian Pfeiffer, 77, ist einer der bekanntest­en deutschen Krimino‰ logen und hat sich in der Vergangen‰ heit intensiv mit Kriminalit­ät und Migration beschäftig­t. Bis 2015 war Direktor des Kriminolog­ischen Forschungs­instituts Niedersach­sen.

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Foto: Kerstin Wendt Kriminolog­e Christian Pfeiffer rät der Staatsanwa­ltschaft, sich von der Hypothese ei‰ nes islamistis­chen Hintergrun­ds des Täters zu verabschie­den.

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