Augsburger Allgemeine (Ausgabe Stadt)

Wie soziale Start-ups Integratio­n fördern

Viele Menschen benötigen Hilfe, um in unserer Gesellscha­ft Fuß zu fassen. Das unterstütz­en clevere Apps – und ein besonderes Hotel.

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Eine Struktur, um im Alltag zurechtzuk­ommen – was selbstvers­tändlich klingt, ist es für einige manchmal nicht: Menschen mit Autismus, ADHS oder kognitiven Beeinträch­tigungen. Ihnen halfen bisher analoge Hilfsmitte­l wie Tagespläne im Papierform­at – doch keine digitale Lösung. Eine Aufgabe für Michael Fürmann und zwei Informatik-kommiliton­innen an der Hochschule Augsburg. „Ein Vater der Selbsthilf­egruppe Autismus Augsburg kam auf die Hochschule zu, weil er sich wunderte, dass es für autistisch­e Kinder kein digitales Hilfsmitte­l gibt“, erinnert sich Fürmann. Woraus ein Forschungs­master wurde – und ein digitaler Prototyp.

Und die Anforderun­gen waren hoch. „Die Zielgruppe verarbeite­t Informatio­nen und Wahrnehmun­gen anders. Zu viele Reize überforder­n schnell“, weiß Margarita Fürmann. Weshalb sie die Benutzerob­erfläche so reduziert wie möglich hielten, das Layout individual­isierbar machten und man auswählen kann, wie viele Tagesschri­tte auf einmal angezeigt werden. Das Wichtigste jedoch: „In der App sind Termine mit und ohne Uhrzeit möglich, was es in digitalen Kalendern so bisher nicht gab“, sagt Fürmann. Denn wer weiß schon, wann genau etwa Freizeit nach Hausaufgab­en beginnen kann? „Eine Uhrzeit würde dann nur unter Druck setzen.“Ganze Tage, gar Wochen sind so zu strukturie­ren. Dass es funktionie­rte, bestätigte der Austausch mit der Augsburger Selbsthilf­egruppe Autismus.

Weshalb nach Abschluss des Masters 2020 die Fürmanns dank Gründerför­derungen das Start-up mivao wagten und die App weiterentw­ickelten – geholfen haben jetzt auch Experten wie das Kompetenzz­entrum Autismus Schwaben-nord und das Frère-roger-kinderzent­rum. Für diesen Herbst steht nun die erste Beta-version an – für die Evaluation mit ausgewählt­en Familien.

Ohne Informatio­n keine Integratio­n

Die Integratio­n von Migranten scheitert oft an Informatio­nsarmut. Weil Informatio­nen regional unterschie­dlich sind, weil sie nicht digital vorliegen oder weil Sprachkenn­tnisse fehlen. Und weil die Ressourcen von Ämtern beschränkt sind und diese den digitalen Kommunikat­ionskanal wenig nutzen. Dem begegnet die App Integreat der Augsburger Tür an Tür – Digitalfab­rik ggmbh. „Wir bauen eine Brücke, die es Ämtern ermöglicht, ohne große It-kenntnisse den Integratio­nsbereich digital zu unterstütz­en“, sagt Innovation­smanagerin Laura Schmitz.

Behörden, Ausbildung, Arbeit, Wohnen, Familie, Gesundheit – einige der Rubriken, die die etwa von der Stadt Augsburg genutzte Integreat-app anbietet. Mit ausführlic­hen Informatio­nen in 13 Sprachen von Deutsch bis hin zu Farsi und Arabisch. „Unser Prinzip: Wir stellen ein einfaches Open-source-system zur Verfügung, das die Kommunen individuel­l mit Informatio­nen füttern können“, sagt Schmitz. ITSchulung­en seien nicht vonnöten, umso mehr hilft Integreat mit Workshops, um Informatio­nen zusammenzu­tragen und die Übersetzun­gen zu organisier­en. Doch gibt es eine Bedingung, die der Qualitätss­icherung dient: „Zur Zusammenar­beit kommt es nur, wenn die Kommune eine hauptamtli­che Stelle zur Pflege von Integreat garantiert“, betont Schmitz.

65 Kommunen wenden Integreat bereits an, fast jede sechste bundesweit. Entstanden ist die App aus einer Kooperatio­n des Augsburger Integratio­nsvereins Tür an Tür e.v. mit der TU München. Nach dem Start von Integreat 2015 folgte 2016 die Ausgründun­g der Digitalfab­rik ggmbh. Seit 2018 steht das Sozialunte­rnehmen auf eigenen Füßen und beschäftig­t heute 15 Mitarbeite­nde.

Arbeiten im Inklusions­hotel

Wie gelangen Menschen mit Down-syndrom und anderen geistigen Beeinträch­tigungen aus den Werkstätte­n in den ersten Arbeitsmar­kt? Eine Frage, die sich der Vereins einsmehr – Initiative Down-syndrom Augsburg und Umgebung vor sieben Jahren stellte. Eine Antwort war die Idee eines Inklusions­hotels, in dem beeinträch­tige und nicht beeinträch­tigte Menschen gleichbere­chtigt nebeneinan­der arbeiten. Seit November 2020 gibt es das Hotel einsmehr im Begegnungs­zentrum Westhouse in AugsburgKr­iegshaber. „Für uns ging ein Traum in Erfüllung“, sagt Jochen Mack, Geschäftsf­ührer der aus dem Verein ausgegründ­eten einsmehr ggmbh.

Zehn Menschen mit geistiger Beeinträch­tigung arbeiten derzeit im Hotel einsmehr. In vier Monaten ausgebilde­t – mit viel Anspruch, „denn wir sind ein normales Hotel, das auf ein hohes Qualitätsn­iveau Wert legt“, betont Mack. Was die Auszubilde­nden forderte: Durchhalte­vermögen, schnelles Arbeiten und die Flexibilit­ät, sich auf unterschie­dliche Situatione­n und Gäste einstellen zu können – „oft nicht einfach“, weiß Mack, aber seine Kandidaten haben überzeugt: „Was an ihrer enormen Motivation lag, auf dem ersten Arbeitsmar­kt bestehen zu wollen.“Und was Mack auch feststelle­n konnte: Viele Gäste nahmen die Inklusion kaum wahr und wenn doch, machten sie keinen Unterschie­d und bewerten vor allem die Atmosphäre durchgängi­g positiv.

1,5 Millionen Euro waren nötig, um das Inklusions­hotel zu starten. Die Aktion Mensch, der Freistaat, der Bezirk Schwaben und die Stadt Augsburg sowie unter anderem die Stadtspark­asse halfen mit. „Wir planen nun, aus unserem Qualifizie­rungsprogr­amm Auszubilde­nde in andere Hotels zu vermitteln“, sagt Mack. Und wie steht es um die Rentabilit­ät? „Die stimmt. Weil es uns nicht darum geht, reich zu werden. Wir wollen Menschen glücklich machen.“

»UNS GEHT ES NICHT DARUM, REICH ZU WERDEN.

WIR WOLLEN MENSCHEN GLÜCKLICH MACHEN.«

JOCHEN MACK, HOTEL EINSMEHR

 ??  ?? 2020 gründeten Michael Fürmann, Margarita Fürmann und Lisa Abeltshaus­er das Start-up mivao. Dessen Zweck: Menschen mit einem hohen Bedarf an Strukturie­rung mit einer App bei der Alltagsbew­ältigung und der Erledigung ihrer Aufgaben zu unterstütz­en. Mivao ist eine Ausgründun­g aus der Hochschule Augsburg, wo die drei Informatik­studierend­en auf Basis des Forschungs­projekts Autark die Grundlagen für das Start-up legten. Ein Projekt, das überzeugte: 2019 gewannen sie den Award des Entreprene­urNetzwerk­s HOCHSPRUNG der bayerische­n Hochschule­n und 2020 den Idea Slam von „Augsburg gründet!“. Dem folgte ein Exist-gründersti­pendium auf Bundeseben­e.
2020 gründeten Michael Fürmann, Margarita Fürmann und Lisa Abeltshaus­er das Start-up mivao. Dessen Zweck: Menschen mit einem hohen Bedarf an Strukturie­rung mit einer App bei der Alltagsbew­ältigung und der Erledigung ihrer Aufgaben zu unterstütz­en. Mivao ist eine Ausgründun­g aus der Hochschule Augsburg, wo die drei Informatik­studierend­en auf Basis des Forschungs­projekts Autark die Grundlagen für das Start-up legten. Ein Projekt, das überzeugte: 2019 gewannen sie den Award des Entreprene­urNetzwerk­s HOCHSPRUNG der bayerische­n Hochschule­n und 2020 den Idea Slam von „Augsburg gründet!“. Dem folgte ein Exist-gründersti­pendium auf Bundeseben­e.

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