Augsburger Allgemeine (Ausgabe Stadt)

Sommerspie­le in Tokio, Sommerspie­le in Salzburg

In scharfem Kontrast starten die weltweit bedeutends­ten Schauveran­staltungen von Sport und Kunst. Auf dem Theater werden wir mit weiteren Konflikten konfrontie­rt

- VON RÜDIGER HEINZE rh@augsburger‰allgemeine.de

Nun starten – Corona zum Trotz – die Sommerspie­le. Und zwar in schärfstem Kontrast: dort, in Tokio, die sportliche­n Sommerspie­le im olympische­n Geist, aber selbst im Freien vollkommen ohne Publikum; hier die künstleris­chen Sommerspie­le vor allem im musikalisc­hen Geist, voran Bayreuth, Bregenz, Salzburg, Letztere sogar mit Vollbesetz­ung selbst in geschlosse­nen Räumen. Das sind die extremen Umgangsfor­men mit dem Virus, die auch jederzeit über den Haufen geworfen werden können. Wer dabei wirklich angemessen und verantwort­ungsvoll handelt, wird sich womöglich erst später herausstel­len.

Allerdings haben die Salzburger Festspiele schon einmal viel gewagt – und dabei gewonnen. Das war im vergangene­n Jahr zu jenem 100. Geburtstag des Festivals, dessen besonderer Charakter eher mit „Test-“denn mit „Festspiele“umrissen werden musste. Es ging gut. Dass es auch 2021 wieder gut gehen dürfte – trotz der Gefahren durch die Delta-variante –, ist eher wahrschein­lich als unwahrsche­inlich. Momentan leben wir ja verschärft im Zeitalter von Statistike­n und Wahrschein­lichkeitsr­echnungen.

Dass es in den Opern-, Schauspiel­und Konzerthäu­sern mutmaßlich gut gehen dürfte, dafür steht die 3-G-auflage, wie sie nicht nur in Bayreuth, Bregenz und Salzburg, sondern auch auf der Augsburger Freilichtb­ühne einzuhalte­n ist. Nur wer geimpft, genesen oder getestet, darf rein zu den olympische­n Spielen der darstellen­den Kunst.

Denn das sind sie ja zweifellos. Nicht nur in Tokio sind körperlich­e Höchstleis­tungen – mitunter auf die Zehntelsek­unde genau – zu erbringen, auch in Bayreuth, Bregenz und Salzburg. Der Stabhochsp­rung braucht Technik, Virtuositä­t, physische wie psychische Kraft genauso wie der Ziergesang rund ums hohe C. Jahrelang ist darauf hinzuarbei­ten, wenn es dermaßen gut gehen soll, dass in den Rängen und Kurven das Publikum – so eingelasse­n und anwesend – ob der Sternstund­e jubelt.

Freilich kommt auf der Theaterbüh­ne, über die angestrebt­e Hochleistu­ng hinaus, noch etwas hinzu. Konfrontie­rt wird das Publikum in aller Regel mit zeiten-, ja epochenübe­rgreifende­n Konflikten, über die Gedanken zu machen sich durchaus lohnt. Ist doch bemerkensw­ert, dass in zwei zentralen Produktion­en der Bregenzer und Salzburger Festspiele 2021 der gewalttäti­ge oder zumindest rüde Umgang mit Frauen auch eine Rolle spielt: in „Rigoletto“und „Don Giovanni“. Es stellt sich die Frage: Wie wird das, was zwar in der Vergangenh­eit spielt, aber durch die Gegenwart gewiss noch nicht erledigt ist, morgen sein? Wird es anhalten? Ebenso bemerkensw­ert bleibt, dass in Salzburg Luigi Nonos 60 Jahre altes Musiktheat­erstück „Intolleran­za“Flüchtling­en, gefolterte­n Demonstran­ten und auch Hochwasser­opfern (!) eine Stimme gibt. Man hört und sieht: Alles kann sich wiederhole­n, trotz der Beschwörun­g „Nie wieder!“: Krieg, Diktatur, Not, Homosexuel­lendiskrim­inierung, Frauenvera­chtung, Pandemien.

Auch deshalb brauchen wir das Theater, und dies nicht nur in der sommerlich­en Festspielz­eit, sondern über das ganze Jahr hinweg: zur Selbstverg­ewisserung, zur Warnung vor Geschichts­vergessenh­eit, für die Aufstellun­g jener Liste, woran weiterhin zu arbeiten ist. Ein Theaterabe­nd kann ein kollektive­r wie individual­isierter Appell sein. Er verweist darauf, was geschehen sollte.

Was wir aber in noch höherem Maße brauchen, das ist der auch von der Bayerische­n Staatsregi­erung sträflich vernachläs­sigte Musikund Kunstunter­richt an den Schulen. Dieser gehört nämlich zur Bildung menschlich­en Wesens.

Die Bühnen zeigen, woran weiterhin zu arbeiten ist

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