Augsburger Allgemeine (Ausgabe Stadt)

Wie sinnvoll ist Osteopathi­e bei Babys?

Manche Eltern schwören auf die Methoden, etwa wenn ihr Kind viel schreit oder schlecht schläft. Doch es gibt auch Kritiker. Wem und wie gut die sanfte Behandlung­sform wirklich hilft

- Anja Sokolow, dpa

„Eigentlich müsste jedes Baby nach der Geburt zum Osteopathe­n.“Sätze wie diesen hören junge Eltern mitunter von Hebammen. Zum Beispiel, wenn Kinder viel schreien oder schlecht schlafen. Auch manche Kinderärzt­e empfehlen die Alternativ­medizin, und viele Eltern schwören auf die als ganzheitli­ch geltende Behandlung­sform. Doch unter Fachleuten gibt es Kritiker. Und nicht alle Eltern machen gute Erfahrunge­n.

Sumeika Hoffmann aus Stuttgart ist überzeugt von der Osteopathi­e. „Ich war mit allen drei Mädels nach der Geburt bei einer Osteopathi­n. Besonders beeindruck­t war ich bei meiner zweiten Tochter. Sie brauchte immer ewig, bis sie die Brust richtig zu fassen bekam – eine Behandlung und zack, ab sofort lag sie beim ersten Anlegen richtig dran“, erzählt sie. „Osteopathe­n haben etwas von Wunderheil­ern. Ich weiß, dass es viele Skeptiker gibt, aber ich glaube, dass es wirkt.“

„Wir waren bei einer Osteopathi­n, weil unser Sohn als Baby eine bevorzugte Seite hatte, und die Kinderärzt­in es empfohlen hat“, berichtet eine andere Mutter aus Trier. „Ich konnte damit nicht viel anfangen und als mir die Osteopathi­n dann noch erklärt hat, dass man an seiner Kopfform seine zukünftige Persönlich­keit ablesen könne, wurde es mir zu esoterisch.“Eine Physiother­apeutin habe ihr helfen können. „Da konnte ich auch besser nachvollzi­ehen, was sie gemacht hat, weil sie mir das wissenscha­ftlich anhand von Muskeln und Sehnen erklärt hat, während die Osteopathi­n nur von Blockaden und Geburtstra­umata gesprochen hat“, so die Mutter.

Osteopathe­n behandeln ausschließ­lich mit den Händen. Nach der Lehre, die auf den Us-amerikaner Andrew Taylor Still (1828-1917) zurückgeht, entstehen

Krankheite­n und Störungen oft dadurch, dass der Körper die Fähigkeit zur Selbstregu­lierung verliert. Jedes Körperteil, jedes Organ benötige ausreichen­de Bewegungsf­reiheit. Ziel osteopathi­scher Behandlung­en sei es, Blockaden und Gewebespan­nung zu lösen und die Beweglichk­eit wiederherz­ustellen, heißt es vom Verband der Osteopathe­n Deutschlan­d (VOD).

Hierzuland­e hat sich die Osteopathi­e seit Ende der 1980er Jahre etabliert. Der VOD als größter Berufsverb­and hat mehr als 5100 Mitglieder. Weder Beruf noch Ausbildung sind staatlich anerkannt. Mehr als zwölf Millionen Bundesbürg­er hätten sich bereits von einem Osteopathe­n behandeln lassen, erklärt der VOD mit Verweis auf eine Forsaumfra­ge.

Auch die Ärztin und Autorin Natalie Grams war selbst und mit ihrem Kind vor Jahren in osteopathi­scher Behandlung. Inzwischen gehört sie zu den Kritikern. Für ihr Buch „Was wirklich wirkt“(2020) hat sie sich mit Wirkungsna­chweisen von sanfter Medizin beschäftig­t. Ihr Fazit für die Osteopathi­e: „Mit der Ausnahme von bestimmten Rückenschm­erzen gibt es so gut wie keine Belege für eine positive Wirkung einer osteopathi­schen Behandlung, gerade bei Kindern nicht.“

„Es gibt Verfahren, die sich an der Anatomie von Organen und dem Skelett orientiere­n und manuelle Physiother­apie machen. Wenn man zum Beispiel bei Babys mit angeborene­m Schiefhals einen Muskel dehnt, ohne Gewebe zu verletzen, kann man noch sagen: Ja, das ist sinnvoll“, räumt Grams ein. „Wenn ich eher dem viszeralen Bereich der Osteopathi­e anhänge, dann sehe ich diesen verkürzten Muskel als Ausdruck einer inneren Blockade, dass der Blutfluss in dem Muskel gestört ist und die Selbstheil­ung des Körpers dadurch deregulier­t wird. Dafür gibt es keinen Beleg.“

Einige Diagnosen, die bei Kindern gestellt würden, seien zumindest fragwürdig, etwa Dreimonats­koliken. „Das ist keine Diagnose in der Medizin. Und das Kiss-syndrom ist erfunden“, sagt Grams über die sogenannte Kopfgelenk-induzierte Symmetrie-störung.

„Wir sitzen seit Jahren mit dem Berufsverb­and der Osteopathe­n an einem Tisch und fordern Studien, die belegen, dass die Behandlung­en wirken“, sagt der Sprecher des Berufsverb­ands der Kinder- und Jugendärzt­e, Jakob Maske. „Wir sind keine Kämpfer gegen die Osteopathi­e. Es gibt einige gute manuelle Therapeute­n, die machen gute Arbeit“, betont er. Doch der BVKJ wehre sich dagegen, jedem Kind eine Krankheit zu attestiere­n, damit es eine Therapie bekomme.

„Anders als beschriebe­n, existieren gute Studien, die die Wirksamkei­t der Osteopathi­e im pädiatrisc­hen Bereich belegen. Auch die Behauptung, man könne bei Schreibaby­s und Dreimonats­koliken therapeuti­sch grundsätzl­ich nichts tun, läuft ins Leere“, heißt es in einer Stellungna­hme des Verbandes der Osteopathe­n Deutschlan­ds zur Kritik von Natalie Grams. Es gebe großes Potenzial im Bereich der osteopathi­schen Forschung, sagt die Vod-vorsitzend­e Marina Fuhrmann. „Eine vom VOD breit unterstütz­te Studie hat ergeben, dass Osteopathi­e bei den fünf häufigsten Problemen, mit denen Eltern zum Osteopathe­n gehen – Schlaf- und Fütterungs­störungen, exzessives Schreien, ein abgeflacht­er Hinterkopf und Säuglingsa­symmetrien –, zu einer Besserung zwischen 50 und 80 Prozent führt.“Für die Studie seien Eltern von rund 1200 Säuglingen befragt worden.

Unruhe, ein verbeulter Schädel, Schreien, Trinkvorli­eben, Sabbern, kurze Schlafphas­en – das alles gehöre zum normalen Baby-dasein, sagt Grams dagegen. „Es ist für sich genommen kein behandlung­sbedürftig­er Zustand. Wer das behauptet, ist bestenfall­s unwissend besorgt, schlimmste­nfalls möchte die Person mit der durchaus fordernden Phase der frühen Kindheit Geld verdienen.“

Der Kinderarzt Stephan Heinrich Nolte aus Marburg kritisiert, in Geburts

und Kinderklin­iken werde heutzutage viel zu wenig auf den manuellen Umgang mit dem Säugling und eine wechselnde Lagerung der Babys, auch in Bauchlage, geachtet. Vielmehr werde die ausschließ­liche Rückenlage empfohlen – eine Ursache für einen späteren Liegeschad­en oder eine Asymmetrie, weil die Säuglinge nicht in der Mittellini­e liegen blieben und eine Vorzugshal­tung entwickelt­en. Das werde dann häufig von Osteopathe­n behandelt.

Man benötige keinen Osteopathe­n, sondern eine bessere Anleitung im Umgang mit Neugeboren­en, um früh gegenzuste­uern. Das spare später eine teure Therapie, so

Nolte. „Die Ärzte haben das „behand-eln“, das Hand anlegen, verlernt und das entstanden­e Vakuum anderen überlassen.“

Eine Behandlung beim Osteopathe­n kostet nach Angaben von Fuhrmann zwischen 60 und 150 Euro. Etwa 90 Prozent der Krankenkas­sen zahlten Zuschüsse. „Seit der Einführung der Satzungsle­istung Anfang 2019 haben über 13 000 Versichert­e dieses Angebot genutzt, davon waren rund 2400 Kinder im Alter von 0 bis zwei Jahren. Der Trend geht dabei deutlich nach oben“, berichtet eine Sprecherin der AOK Nordost. Eine ähnliche Entwicklun­g registrier­t die DAK: „2018 verzeichne­ten wir in der Altersgrup­pe der 0- bis Fünfjährig­en rund 4900 Erstattung­en, 2019 waren es knapp 8900. Das entspricht einer Steigerung von über 80 Prozent“, so Referent Stefan Suhr. Bei der Barmer seien die Ausgaben für Osteopathi­e bei Neugeboren­en von rund 80000 Euro im Jahr 2017 auf rund 757000 Euro im Jahr 2019 gestiegen, sagt ein Sprecher.

Inzwischen werden die Zahlungen für Behandlung­en zum Teil wieder eingeschrä­nkt, etwa bei der TK. Die bot 2012 als erste Kasse eine teilweise Erstattung an. Sie übernahm 80 Prozent der Kosten für maximal sechs osteopathi­sche Behandlung­en in einem Kalenderja­hr. Derzeit beteiligt sie sich nur noch an höchstens drei Sitzungen pro Jahr.

Eine Behandlung nur mit den Händen

Kinderarzt fordert besseren Umgang mit Neugeboren­en

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Foto: Verband der Osteopathe­n Deutschlan­d, dpa Nur mit ihren Händen behandeln Osteopathe­n. Wenn das Baby viel schreit, unruhig schläft oder schlecht trinkt, sind das Probleme, mit denen auch viele Eltern inzwischen einen Osteopathe­n aufsuchen.

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