Augsburger Allgemeine (Ausgabe Stadt)
Versprochen, verlassen, vergessen
Zwei Tage vor der Eröffnungsfeier haben die Spiele bereits in Fukushima begonnen. Dort, wo vor zehn Jahren ein Atomkraftwerk havarierte, soll Tokio 2021 für Wiederaufbau stehen. Es sieht nicht überall danach aus
Fukushima „Das war ein ausgezeichneter Start“, sagt Eri Yamada am Mittwochvormittag vor einer Traube von Journalisten. Die Kapitänin der japanischen Softballfrauen aber scheint sich mit Emotionen lieber zurückzuhalten. „Wir hoffen, dass wir damit jetzt ganz Japan aufheitern können.“Immerhin hat Japan beim ersten Spiel im Rahmen der Olympischen Spiele von Tokio gerade mit 8:1 gegen Australien gewonnen. „Aber die Atmosphäre ist etwas ungewohnt“, räumt Yamada ein. Zwei Tage vor der Eröffnungsfeier von „Tokyo 2020“, wie sich die Spiele auch nach der pandemiebedingten Verschiebung um ein Jahr weiter offiziell nennen, laufen die ersten Wettbewerbe schon an anderen Orten als der japanischen Hauptstadt. Neben Spielen im Softball in Fukushima findet am Mittwoch im weiter nördlich gelegenen Sendai schon Fußball statt. Auch in Sapporo auf der Nordinsel Hokkaido wurde Fußball gespielt. Die japanische Öffentlichkeit aber schaut an diesem Mittwoch vor allem nach Fukushima.
Die Spiele von Tokio zeichnen sich schließlich nicht nur deshalb durch die seltsame Atmosphäre aus, weil sie in einer Pandemie stattfinden und fast überall keine Zuschauer in die Stadien dürfen. Es gibt einen weiteren Grund, der für Entfremdung sorgt. Vor der Pandemie stand „Tokyo 2020“für ein großes Versprechen. Insbesondere dem Nordosten des Landes, wo Fukushima und das weiter nördliche Sendai liegen, wurde gesagt, die Spiele von Tokio würden die „fukkou gorin“– die Wiederaufbauspiele.
Vor gut zehn Jahren, ab dem 11. März 2011, erlebte Japan die schlimmste Katastrophe seiner jüngeren Geschichte. Als erst die Erde mit einer historischen Stärke von 9,0 bebte, dann ein an die 20 Meter hoher Tsunami über die Nordostküste des Landes hereinbrach, wurden ganze Dörfer vom Ozean geschluckt oder durch das Erdbeben erschüttert. Hunderttausende verloren ihr Zuhause, ungefähr 20 000 Menschen starben. Als wäre das nicht genug gewesen, havarierte noch das an der Küste gelegene Atomkraftwerk Fukushima Daiichi. So mussten auch jene Einwohner landeinwärts das Weite suchen, deren Häuser der Tsunami oder das Erdbeben physisch nicht zerstört hatte. Die dort gemessene radioaktive Strahlung war bei weitem zu hoch, als dass ein Leben in den Orten noch möglich gewesen wäre.
Im Azuma- Stadion, wo am Mittwoch auf zurückhaltende Weise der Olympiaauftakt gefeiert wurde, ist von Schäden durch die Katastrophe nichts zu sehen. Fukushima-stadt liegt 60 Kilometer landeinwärts, evakuiert wurde hier nie. Kritiker halten den Slogan „Wiederaufbauspiele“daher für einen Affront gegen die wirklich betroffenen Gebiete. Einen Tag vor dem Olympiastart an der Küste von Fukushima, in unmittelbarer Nähe zur Atomruine, fährt Tatsuhiro Yamane mit seinem Auto durch das Dorf Futaba, wo die Atomruine schmort. „Hier war die alte shotengai, die Einkaufsmeile“, sagt der 36-Jährige und deutet die verlassene Straße entlang. Eben hat er ein zerfallenes Ziegeldach passiert, das mal das Prachtstück eines buddhistischen Tempels war. Nun liegt rechts ein alter Fleischerladen. Die Fenster zersprungen, drinnen verwüstet, die Decke eingestürzt. Daneben ein verlassenes Uhrengeschäft, in dem streunende Tiere hausen.
Yamane kam im Sommer 2013 als Aufbauhelfer nach Futaba. Der junge Mann aus Tokio heiratete eine Frau aus Futaba, hat zwei Kinder mit ihr. Seit Anfang des Jahres ist er Gemeinderatsmitglied, muss diesen Job allerdings wegen der weiter bestehenden Evakuierungsanordnung aus der eine Stunde südlich gelegenen Großstadt Iwaki ausführen. Tagsüber, wenn man derzeit nach Futaba darf, bietet Yamane Walking Tours für Besucher an. In der Hoffnung, auf die Situation aufmerksam zu machen. „Sobald es wieder möglich ist, wollen wir mit der Familie nach Futaba ziehen.“Gut 6 000 Einwohner lebten einst in diesem Ort, den man heute Geisterstadt nennt.
In den Wochen, als Yamane zum ersten Mal vom südöstlich gelegenen Tokio gen Norden nach Futaba fuhr, um sich inmitten der Zerstörung ein bisschen nützlich zu machen, wurde am anderen Ende der Welt Großes verkündet. „Einige von Ihnen machen sich womöglich Sorgen über Fukushima“, sagte der damalige Premierminister Shinzo Abe mit beruhigender Gestik hinter einem Rednerpult. „Aber lassen Sie mich Ihnen versichern: Die Situation ist unter Kontrolle.“Diese Haltung, die Abe am 7. September 2013 auf der Generalversammlung des Internationalen Olympischen Komitees in Buenos Aires offenbarte, dürfte entscheidend dazu beigetragen haben, dass Tokio an jenem Abend das Austragungsrecht für die Sommerspiele 2020 gewann.
Als die Tokioter Bewerber mit gewonnenem Austragungsrecht zurück nach Japan reisten, prägten sie das Motto „fukkou gorin“– Spiele des Wiederaufbaus. Die Idee war hochtrabend und nicht gerade schüchtern um historische Vergleiche. Im Jahr 1964 war Tokio erstmals olympischer Gastgeber. 19 Jahre nach dem verheerenden Zweiten Weltkrieg, der für Japan mit Atombomben über Hiroshima und Nagasaki sowie Luftangriffen auf fast jede Großstadt geendet hatte, präsentierte sich Japan damals als wiederauferstanden. Die diesjährigen Spiele von Tokio finden im selben Geist statt: Die Wehen der Krise sollen abgeschüttelt werden, der Blick auf eine schmerzvolle Vergangenheit in die Zukunft gewendet werden.
An einigen Stellen in Futaba liegt die Radioaktivität heute unterhalb von 0,23 Mikrosievert pro Stunde. Dies ist der Richtwert der Regierung von vor der Atomkatastrophe, bei dem die Regierung von sicheren Lebensbedingungen ausging. Vielerorts sind die Messwerte deutlich höher. Nach der Atomkatastrophe wurde schließlich der Schwellwert empfohlener Strahlenbelastung auf das 20-Fache angehoben. So ist Namie, das durch Dekontaminierungsarbeiten vermeintlich sicher geworden ist, nun wieder bewohnt. Die Angst ist miteingezogen. „Du kannst es nicht riechen, schmecken oder fühlen. Es ist einfach da. Und dann ist da plötzlich ein Hotspot“, sagt der 45-jährige Takanori Asami. „Das hier ist unsere Heimat. Aber sie ist anders als die alte, an die wir uns erinnern.“So findet es Asami auch unangebracht, dass die Olympischen Spiele unter dem Banner des Wiederaufbaus stattfinden. „Ich bin selbst Sportler gewesen. Hab’ versucht, mich für die Spiele von Atlanta 1996 im Boxen zu qualifizieren. Aber das hier passt doch nicht zusammen.“Eine Umfrage unter den Ex-bewohnern von Futaba hat ergeben, dass nur noch zehn Prozent zurückkehren wollen.
Haben die Olympischen Spiele bei der Erholung geholfen? Der Lokalpolitiker Tatsuhiro Yamane überlegt, blickt stöhnend gen Himmel. „Hier spürt man nichts davon.“All das Geld, das in die Olympischen Spiele investiert wurde, sei hier kaum angekommen. „Die Bedürfnisse der Menschen hier wurden auch wenig angehört.“So zweifelt Yamane, der bis zu seiner Universitätszeit intensiv Baseball spielte, ob er sich für die Olympischen Spiele erwärmen kann, obwohl sein geliebter Sport nun hier in der Nähe ausgetragen wird.
Beim Gedanken an den Slogan „fukkou gorin“sagte Takanori Asami : „Ich hoffe, dass mit Ende der Olympischen Spiele dann nicht auch gleich der Wiederaufbau für vollbracht erklärt wird.“Denn so weit sei man noch lange nicht. Vielleicht ist der vor Jahren noch so häufig ausgesprochene Slogan dieser Spiele auch deshalb am Mittwoch fast nicht erwähnt worden.
Aus der Gemeinde ist eine Geisterstadt geworden