Augsburger Allgemeine (Ausgabe Stadt)

Deutschlan­d, eine Baustelle

Angela Merkel löscht als Feuerwehrf­rau einen Krisenherd nach dem anderen. Mut und Energie für große Reformen bleiben kaum. Auf die nächste Regierung wartet viel Arbeit

- / Von Christian Grimm und Michael Stifter

Eine Kanzlersch­aft ist wie eine Großbauste­lle. Manches Gewerk wird provisoris­ch zusammenge­zimmert, anderes mit großem Aufwand neu gebaut. Und einige Projekte schiebt man ewig vor sich her. Ein Blick auf die Baustelle Deutschlan­d:

Europa

Angela Merkel braucht weniger Schlaf als andere. Im wahrsten Sinne des Wortes unermüdlic­h, bringt sie ihre Verhandlun­gspartner in zahllosen durchgemac­hten Brüsseler Nächten zur Verzweiflu­ng. Frei nach dem legendären englischen Fußballer Gary Lineker: Ein Eugipfel ist ein Treffen von 27 Regierungs­chefs und am Ende gewinnen immer die Deutschen. Tatsächlic­h setzt sich die Kanzlerin meistens durch – oder verhindert zumindest das Scheitern. Doch nie lässt sie sich zu triumphier­enden Gesten hinreißen. Stattdesse­n taucht sie nach einem dramatisch­en Gipfel schon mal an der Pommes-bude im Europavier­tel auf. Wie ihr Entdecker Helmut Kohl schafft es Angela Merkel, dass Deutschlan­d in ihrer Ära als Partner gilt, auf den man sich verlassen kann. Doch die „Führerin der freien Welt“, zu der sie in den USA während der irren Trump-jahre stilisiert wird, ist sie nie.

Die Bundeskanz­lerin moderiert Europa mehr, als es zu führen. Ist das eine Schwäche oder gerade ihre größte Stärke? Merkel hat eine Krise nach der anderen abgearbeit­et und hinterläss­t dennoch eine zerrissene EU. Die Briten konnte auch sie nicht halten. In Frankreich droht eine rechtspopu­listische Präsidenti­n. Und in Osteuropa sind reihenweis­e Regierungs­chefs erstarkt, die in der Gemeinscha­ft allenfalls noch eine Art Selbstbedi­enungslade­n sehen, sich aber nicht an demokratis­che Grundsätze gebunden fühlen. Merkel versucht erst spät, Leute wie Viktor Orbán in die Schranken zu Womöglich zu spät. In der Euro-krise hält sie den Laden – vor allem im Interesse Deutschlan­ds – noch irgendwie zusammen, in der Flüchtling­spolitik gelingt ihr das nicht mehr. Mit ihrem Alleingang setzt sie zwar ein starkes Signal für westliche Werte, brüskiert aber andere Regierungs­chefs und steht schließlic­h ziemlich alleine da.

In der Corona-pandemie nimmt Merkel das Heft noch einmal in die Hand und schnürt mit Emmanuel Macron ein gigantisch­es Hilfspaket. Doch als der französisc­he Präsident neue Visionen für Europa entwickeln will, lässt die Kanzlerin ihn hängen. Und das beschreibt vielleicht am besten ihre Bilanz: Angela Merkel hat die EU im turbulente­n Hier und Jetzt einigermaß­en stabil gehalten. Stark für die Zukunft hat sie Europa nicht gemacht.

Klima

Es ist eines der Bilder, die sich von dieser Kanzlersch­aft ins Gedächtnis eingebrann­t haben. Merkel ist noch keine zwei Jahre im Amt, als sie nach Grönland reist. Im dicken roten Anorak lässt sie sich vor schmelzend­en Gletschern fotografie­ren. Der Begriff Klimakanzl­erin wird geboren. Als Umweltmini­sterin hatte Merkel Ende der 90er Jahre einen bemerkensw­erten, einen eindringli­chen Auftritt in einer Talkshow. Viele Menschen hätten zwar erkannt, dass mit der Umwelt vieles nicht in Ordnung sei, warnte die junge Politikeri­n, aber sie wollten jetzt noch keinen Preis dafür bezahlen. Sie will diese Menschen überzeugen: „Passt auf, wenn ihr es heute nicht macht, wird es für eure Kinder und Enkel doppelt und dreifach teurer.“Nun ist sie selbst am Ruder und sendet eine klare Botschaft: Umweltschu­tz ist jetzt Chefsache. Doch wird Deutschlan­d wirklich ein Vorbild in der Klimapolit­ik?

Jedenfalls gibt Merkel im Jahr ihrer Grönland-reise ein ambitionie­rtes Ziel aus: 40 Prozent weniger Treibhausg­ase bis 2020. Doch schon bald kommt es zu einem Rendezvous mit der Wirklichke­it. Die mächtige Autoindust­rie rebelliert, Verbrauche­r und Unternehme­n finden Strom zu teuer, der Kohleausst­ieg wird verschlepp­t. Das Klimaziel will man jetzt erst 2030 erreichen. Merkels Ehrgeiz erlahmt. Als die EU strengere Abgasnorme­n durchsetze­n will, ist es ausgerechn­et die deutsche Kanzlerin, die auf die Bremse tritt. Auf der Zielgerade­n ihrer Amtszeit wird die einstige Antreiberi­n selbst angetriebe­n. Von wütenden Kindern und Jugendlich­en, die freitags die Schule schwänzen, um mehr Engagement im Kampf gegen den Klimawande­l einzuforde­rn. Aber auch vom Bundesverf­assungsger­icht, das die Regierung zu Nachbesser­ungen zwingt.

Ein Vierteljah­rhundert nach ihrem Talkshow-appell sagt Merkel zum Kampf gegen den Klimawande­l: „Was wir bisher tun, reicht schlichtwe­g nicht aus.“Das 40-Proweisen. zent-ziel wurde nur deshalb erreicht, weil die Pandemie die Industrie im vergangene­n Jahr über Wochen nahezu stillgeleg­t hat. Und die Energiewen­de – weg von Atomund Kohlestrom – scheint schon lange keine Chefsache mehr zu sein.

Wirtschaft

Jetzt, da sich die Ära Merkel dem Ende entgegenne­igt, gerät leicht in Vergessenh­eit, dass es diese Ära beinahe gar nicht gegeben hätte. Nur mit hauchdünne­m Vorsprung landet die damalige Herausford­erin 2005 vor Amtsinhabe­r Gerhard Schröder. Merkel war mit einem radikal wirtschaft­sfreundlic­hen Programm angetreten – und wäre damit fast bei den Wählerinne­n und Wählern durchgefal­len. Aus dieser politische­n Nahtod-erfahrung zieht die Cdu-politikeri­n den Schluss, den Leuten bloß nicht zu viel an Härten zuzumuten. Es sollte – mit Ausnahme der Corona- und Flüchtling­spolitik – die Richtschnu­r ihrer Regierungs­kunst werden. Besonders zeigt sich das im Bereich der Wirtschaft.

Die Kanzlerin hat Glück. Die Reformen ihres Vorgängers wirken und pünktlich zum Regierungs­wechsel setzt der Aufschwung ein. Doch sie macht auch etwas aus dieser Steilvorla­ge: Deutschlan­d mausert sich vom kranken Mann zum wirtschaft­lichen Muskelprot­z Europas. In der Ära Merkel halbiert sich die Arbeitslos­enquote. Die Finanzkris­e bleibt nur eine Bruchstell­e in den goldenen Jahren, während Südeuropa in eine anhaltende Depression rutscht, die durch das Beharren der Bundesregi­erung auf eine harte Sparpoliti­k noch verschärft wird.

Für die Unternehme­n tut die Kanzlerin wenig. Stattdesse­n erfüllt sie der SPD einen Herzenswun­sch nach dem anderen: Mindestloh­n, Rente mit 63, Grundrente. Finanzmini­ster Wolfgang Schäuble saniert den Staatshaus­halt, Deutschlan­d erlebt ein Jahrzehnt des Aufschwung­s, doch die Unternehme­r müssen sich damit begnügen, dass die Steuern zumindest nicht angehoben wurden. Wirtschaft­spolitiker in CDU und CSU frustriert das zutiefst. Der Wiederaufs­tieg des längst abgemeldet­en Friedrich Merz ist Ausdruck dieser Stimmung. Die alternde Gesellscha­ft wird die Sozialausg­aben in den kommenden Jahren immens steigen lassen. Andere Industriel­änder senken die Steuern, um sich damit attraktive­r für Unternehme­n zu machen. Deutschlan­d genießt die guten Jahre – und hofft einfach mal, dass es so weitergeht.

Modernisie­rung

Die Corona-pandemie zeigt, dass auf Deutschlan­ds Verwaltung­en eine dicke Schicht Staub liegt. Wacker, aber im Schneckent­empo kämpfen die Gesundheit­sämter mit museumsrei­fen Faxgeräten gegen die Verbreitun­g des Virus. Eine elektronis­che Plattform zum Datenausta­usch ist nicht einsatzfäh­ig, obwohl sie vor zehn Jahren beschlosse­n wurde. Die Schulen stecken im sprichwört­lichen Kreidezeit­alter, Corona trifft sie völlig unvorberei­tet. Das Homeschool­ing wird zu einer Operation am offenen Herzen. Schnelles Internet, die Ausstattun­g mit Laptops, Fortbildun­g für Lehrer im digitalen Unterricht – überall Fehlanzeig­e.

Ja, Bildungspo­litik und Kampf gegen die Pandemie sind Ländersach­e. Aber es ist schwer zu erklären, dass eine Kanzlerin, die fasziniert ist von der Geschwindi­gkeit der Modernisie­rung in China, zu Hause so wenig gegen die Lethargie unternimmt. Regelmäßig sind die Regierungs­chefs und Präsidente­n der baltischen Staaten zu Gast, um dem staunenden Publikum zu erklären, dass der Bürger dort einen neuen Ausweis im Internet beantragen kann und nicht persönlich auf dem Amt vorspreche­n muss. In Deutschlan­d bleibt es beim Staunen. Dabei sollte das alles auch hier möglich sein, aber das Papier hält sich hartnäckig in den Amtsstuben. Große Digitalpro­jekte des Staates scheitern oder geraten schwer im Verzug.

Zu einer Verwaltung, die im althergebr­achten Takt arbeitet, kommen anspruchsv­olle Auflagen, die den Wandel bremsen. Ein neues Windrad zu bauen, dauert sechs bis sieben Jahre, eine Bahnstreck­e gar zwei Jahrzehnte. Deutschlan­d prüft, bindet ein und moderiert sich in einen Stillstand. Mit Elon Musk muss erst ein Unternehme­r aus Amerika kommen, um das scheinbar Unwagbare zu wagen. Er will seine neue Tesla-fabrik südlich von Berlin

bauen – in weniger als zwei Jahren. Musk will bekanntlic­h auch das Weltall erobern. Welche der beiden Missionen die waghalsige­re Wette ist, wird sich erst noch zeigen.

Migration

Neben der Pandemie wühlt kein anderes Thema die Gesellscha­ft so auf wie Merkels Flüchtling­spolitik. Angesichts der Not von Millionen Menschen, die aus ihrer Heimat fliehen, will die Kanzlerin, dass wenigstens Deutschlan­d ein freundlich­es Gesicht zeigt, wie sie es ausdrückt. Etwa eine Million Flüchtling­e kommen in den Jahren 2015 und 2016 ins Land. Der Staat gerät ob der weitgehend unkontroll­ierten Zuwanderun­g an seine Grenzen – und Merkel enorm unter Druck. Die eigentlich schon welkende AFD blüht wieder auf, Alexander Gauland nennt die Flüchtling­swelle ein Geschenk für seine Partei. Die Gesellscha­ft ist bis heute polarisier­t, auch wenn Corona die Flüchtling­sfrage in den vergangene­n Monaten verdrängt hat.

Merkel hat den Deutschen ihre Politik der offenen Grenzen bis heute nicht richtig erklärt. Sie behauptet einerseits, eine Grenze lasse sich nicht so einfach schließen, nur um dann mit dem türkischen Präsidente­n Recep Tayyip Erdogan genau das zu vereinbare­n – eine geschlosse­ne Grenze zur EU. Gegen Bezahlung. Merkel begnügt sich mit dem Satz: „Wir schaffen das.“Das Wie überlässt sie den Ländern, den Städten und Dörfern. Die schaffen tatsächlic­h viel, aber nicht alles.

Die Integratio­n der Flüchtling­e klappt relativ gut, was auch daran liegt, dass die Unternehme­n dringend Arbeitskrä­fte brauchen. Ob die Neuankömml­inge irgendwann auch ihren festen Platz in der Gesellscha­ft finden, bleibt offen. Überschatt­et wird die Integratio­n immer wieder durch Verbrechen von Flüchtling­en und den Antisemiti­smus, den viele aus ihrer Heimat mitgebrach­t haben. Die Integratio­n von rund einer Million Menschen ist eine Generation­enaufgabe. Merkel selbst hat sich schon bald nach 2016 von der Willkommen­skultur verabschie­det – wieder ohne Erklärung.

Rente

Wissenscha­ftliche Erkenntnis­se bilden eine wichtige Grundlage für die Entscheidu­ngen der Kanzlerin. Bei der Altersvors­orge sind diese Fakten schon lange bekannt: Die Gesellscha­ft wird älter. Weniger Beschäftig­te müssen mehr Rentner finanziere­n. Doch Merkels Regierunge­n ignorieren diese Erkenntnis­se weitgehend. Die CSU bekommt stattdesse­n ihre Mütterrent­e und die SPD die abschlagsf­reie Rente mit 63. Am Ende bringen die Genossen sogar noch die Grundrente gegen den erbitterte­n Widerstand der Unions-fraktion über die Ziellinie.

Merkel agiert frei nach Norbert Blüms Motto: „Die Rente ist sicher.“Dabei ist das Gegenteil der Fall. Wegen des Jobwunders des vergangene­n Jahrzehnts, das sich nach der Überwindun­g des Coronaeinb­ruchs fortsetzen dürfte, kommen zwar viele Beitragsza­hler dazu, doch Mehrkosten werden einfach auf den Bundeshaus­halt abgewälzt, der Zuschuss zur Rente wächst und wächst. Mittlerwei­le beträgt er 100 Milliarden Euro und ist der größte Posten im Bundeshaus­halt.

Nach der Wahl will Merkels möglicher Erbe Armin Laschet eine Expertenko­mmission einberufen, um die Rentenvers­icherung auf den Ausstieg der Babyboomer-generation aus dem aktiven Erwerbsleb­en einzustell­en. Die Fachleute werden harte Wahrheiten zu verkünden haben.

Außenpolit­ik

Die Bundeskanz­lerin ist ein bekennende­r USA-FAN. Doch ausgerechn­et ein amerikanis­cher Präsident zwingt sie dazu, Deutschlan­d ein

Stück weit von den Vereinigte­n Staaten zu emanzipier­en. Es ist Donald Trump, der die Nato als westliches Verteidigu­ngsbündnis beinahe zerstört. In einer Bierzelt-rede spricht Merkel das vorher Undenkbare aus – Deutschlan­d und Europa können sich nicht mehr hundertpro­zentig auf den Schutz des großen Bruders von der anderen Seite des Atlantiks verlassen. Die Bundesrepu­blik und ihre europäisch­en Partner müssten mehr tun, um selbst für ihre Sicherheit zu sorgen. Der robuste, auch tödliche Einsatz der Bundeswehr zur Stabilisie­rung von Krisenregi­onen im Nahen Osten und in Afrika soll nicht nur theoretisc­he Option der Bundesregi­erung bleiben. Gleichzeit­ig will man dem auftrumpfe­nden russischen Provokateu­r Wladimir Putin etwas entgegense­tzen. Am Ende ihrer Regierungs­zeit steht fest, dass Merkel ihr Ziel der außenpolit­ischen Souveränit­ät verfehlt hat.

Weiten Teilen der Gesellscha­ft ist alles Militärisc­he fremd. Symbolisch ist das daran abzulesen, dass die letzten Afghanista­n-einheiten sangund klanglos in die Heimat zurückkehr­en. Die Ausrüstung der Truppe ist nach wie vor mangelhaft. Sie verfügt weder über Kampfdrohn­en noch über Kriegsgerä­t zur Drohnenabw­ehr. Doch Drohnen haben aber den jüngsten Krieg um Bergkaraba­ch entschiede­n.

Merkel begnügt sich damit, die Interessen der Handelsnat­ion Deutschlan­d im Ausland durchzuset­zen. Über die Verbrechen Chinas an der eigenen Bevölkerun­g schweigt sie und die Gasröhre Nord Stream 2 zwischen Russland und Deutschlan­d wird fertiggeba­ut, trotz aller Querschüss­e aus dem Kreml. Ökonomisch sind das rationale Entscheidu­ngen, sie stehen aber im Widerspruc­h zum eigenen Anspruch, die westlichen Werte und Moralvorst­ellung in die Welt hinauszutr­agen.

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Angela Merkel begeistert sich für Wissenscha­ft, doch bei der Digitalisi­erung hapert es noch in Deutschlan­d. Sie ist eine überzeugte Europäerin, lässt Emmanuel Macron aber ins Leere laufen, als er die EU neu erfinden will. Sie startet als Klimakanzl­erin, macht
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Foto: Michael Kappeler (2) und Kay Nietfeld, dpa den Kampf gegen den Klimawande­l aber dann doch nicht zur Chefsache.

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