Augsburger Allgemeine (Ausgabe Stadt)
Der Forscher und die heilende Erde
Seit Urzeiten pilgern Menschen zu einem Grab in Nordirland, weil dessen Erde Wunder bewirken soll. 2019 geht ein Forscher der Legende nach – und entdeckt im Lehm ein Bakterium. Es könnte eine Lösung für eines der größten Probleme der modernen Medizin sein
Boho Im Jahre 1745 wurde in einem Dorf im heutigen Nordirland James Mcgirr geboren. Als junger Mann wurde er Pfarrer, galt als Wunderheiler, konnte von der Krätze bis zur Cholera alles heilen, was seine Pfarrei befiel. Als Mcgirr im Alter von 70 Jahren starb, sollen seine letzten Worte gewesen sein: „Nach meinem Tode soll der Lehm, der mich bedeckt, alles heilen, was ich zu heilen vermochte.“
275 Jahre nach seiner Geburt haben zehntausende Menschen die Erde aus Mcgirrs Grab in den Händen gehalten, zwischen den Fingern zerrieben, unter ihren Kopfkissen verteilt, in Europa, den USA. So viele, dass der Friedhofswärter ein Schild vor Mcgirrs Grab anbrachte, mit der Bitte: Man solle doch bitte die Graberde, wenn man sie sich schon leihe, wieder zurückbringen.
2019 traf die Legende des Pfarrers Mcgirr auf die Forschung des Mikrobiologen Gerry Quinn. Zwei Dinge verbinden diese Männer: ihre Herkunft – das Dorf Boho in Nordirland – und der Lehm. Denn Gerry Quinn fand heraus: Pfarrer Mcgirrs Graberde könnte wirklich heilen. Nur eben ganz anders, als jahrhundertelang die Pilger glaubten.
Die Lösung des lindernden Lehms, vermutet Quinn, liegt in einem Organismus, der mikroskopisch klein ist und den Geruch von moosigem Waldboden verbreitet. Ein Organismus, an dem zwei Nobelpreise hängen. Der in Pfarrer Mcgirrs Grab lebt. Und dessen Sporen eine Antwort auf eine der wichtigsten Fragen der modernen Medizin enthalten.
An einem regnerischen Tag sitzt Gerry Quinn, ein kleiner Mann mit eisblauen Augen und einem Dreiteiler in Tweed, am Steuer seines Mietwagens. Er fährt durch kleine Ortschaften in der leeren Mitte Nordirlands, vorbei an Seenplatten, Nadelwäldern und Weideland, bis an die Grenze des Vereinigten Königreichs zur Republik Irland, in das Dorf Boho, wo Quinn aufgewachsen ist und Pfarrer Mcgirr begraben liegt. Er folgt Serpentinen einen Hügel hinauf, bis ein Kirchturm erscheint, eine kleine Kapelle und am höchsten Punkt: der Friedhof.
Darauf befindet sich eine im Boden eingelassene Steinplatte mit schwer lesbarer Inschrift. Es liegt ein Kiesel darauf mit der Inschrift „Hope“– Hoffnung –, ein Kruzifix, ein Amulett des heiligen Christophorus, Schutzpatron der Reisenden. Am Kopfende der Platte liegen 23 Löffel, Überbleibsel der Pilger. Davor ist ein Loch im Boden, das aussieht, als hätten hier gerade erst Menschen in der Erde gepult.
Die Regeln des heilenden Lehms sind festgeschrieben: Man nehme eine Löffelspitze Graberde, bete das Vaterunser, ein Ave Maria, ein Ehre sei dem Vater und ein Apostolisches Glaubensbekenntnis, dann ein Gebet für Pfarrer Mcgirr und eines für die Linderung der eigenen Beschwerden. Man bewahre die Erde sicher auf, in einem Umschlag, und bete dreimal täglich, für drei Tage. Am vierten Tag bringe man die Erde zurück. Sonst drohe ein Fluch.
Glaubt man den Dorfbewohnern, wirkt diese Erde. Hunderte von Pilgern kommen jede Woche an Pfarrer Mcgirrs Grab. Sie hoffen auf ein Wunder. Glaubt man Gerry Quinn, wirkt diese Erde tatsächlich. Aber aus einem banaleren Grund: Bakterien. Um genau zu sein, eine einzige Familie von Bakterien. Sogenannte Streptomyces.
Streptomyces sind Gerry Quinns Lebensprojekt. Sie zählen zu den wichtigsten medizinischen Entdeckungen des 20. Jahrhunderts, wirken gegen Viren und Würmer, gegen Krebs und bei Alzheimer. Vor allem aber sind sie eine wichtige Quelle für Antibiotika. Fast 60 Prozent der heute erhältlichen Antibiotika werden aus Streptomyces gewonnen. Quinn erforscht, wie Streptomyces gegen multiresistente Keime wirken. Diese meist in Krankenhäusern verbreiteten Bakterien, die gegen viele Antibiotika immun geworden sind, stellen die Pharmaindustrie vor gewaltige Probleme – und sind laut der Weltgesundheitsorganisation (WHO) eine der weltweit größten Bedrohungen für die Gesundheit.
„Multiresistente Keime sind die größte Gefahr für die menschliche Gesundheit“, sagt beispielsweise Paul de Barro, ein Mikrobiologe an Australiens Nationaler Wissenschaftsbehörde CSIRO. „Covid ist da nicht mal in der Nähe.“Die WHO führt eine Liste der am weitesten verbreiteten multiresistenten Keime. Resistenzen gegen E.coli, einen Erreger, der etwa Blasenentzündung, aber auch schwere Komplikationen wie Nierenversagen verursacht, sei in einigen Regionen so verbreitet, schreibt die WHO, dass nur noch eine von zwei Personen auf Antibiotika anspricht.
Es wird kaum mehr nach neuen Antibiotika geforscht. Laut dem amerikanischen Pew Center for Health stammen sieben der heutigen Antibiotika aus Entdeckungen der 40er Jahre, zehn aus den 50ern, je fünf aus den 60ern und 70ern. In den 80ern wurden noch zwei Stoffe entdeckt. Seither: null.
88 Prozent aller weltweit verschriebenen Antibiotika entfallen demnach auf 19 Präparate. Und keines davon basiert auf einer Entdeckung der letzten 40 Jahre. Die meisten Pharmaunternehmen haben in den vergangenen zehn Jahren ihre Antibiotikaforschung eingestellt. Weil es sich einfach nicht lohnt. Antibiotika gegen multiresistente Keime kosten extrem viel in der Entwicklung, werden dann nur für kurze Zeit und zu einem geringen Preis verschrieben. Sie sind ein Heilmittel für wenige. Für diese aber geht es um Leben und Tod. Die WHO zählt rund 700000 Todesfälle im Jahr durch multiresistente Keime. Und schätzt die Zahl bis 2050 auf jährlich zehn Millionen.
Die Dringlichkeit des Problems lässt sich am Beispiel des Antibiotikums Colistin sehen. Es wurde in den 1950ern entwickelt, auf den Markt gebracht und kurz darauf wieder zurückgezogen, weil es nierenschädigend ist. Es wirkt gegen Acinetobacter baumanii, einen multiresistenten Keim, der Meningitis und Lungenentzündungen verursachen kann. Acinetobacter hat in den vergangenen Jahren so viele Resistenzen entwickelt, dass Colistin wieder ausgegraben wurde. Und selbst das wirkt oft nicht mehr. „Resistenzen gegen Colistin wurden mittlerweile in vielen Regionen und Ländern entdeckt, was die Infektionen mit A. baumanii unbehandelbar macht“, schreibt die WHO. Es gibt nichts mehr im Regal, was wirkt.
„In den 40er Jahren, als Penicillin in die Krankenhäuser kam, sprachen die Menschen von Wundern“, sagt Wolfgang Jessner, Leiter der Entwicklungsabteilung für Medikamente gegen Infektionskrankheiten beim Schweizer Pharmaunternehmen Roche. „Man kann sich kaum mehr vorstellen, was das für einen Stellenwert hatte, was für eine Revolution der Behandlung.“Diese Einsicht aber scheint verloren gegangen zu sein. „Wenn wir die Resistenzen nicht schnellstmöglich angehen, riskieren wir einen großen Rückschritt für die medizinische Versorgung in der Welt“, sagt er.
Quinns Obsession für Streptomyces begann an der Swansea University in Wales. Seine Labornachbarin Luciana Terra, eine brasilianische Forscherin, suchte nach Streptomyces und sammelte Erdproben aus dem Amazonas-regenwald. Terra war Teil einer multinationalen Forschungsgruppe der Mikrobiologen Paul Dyson und Julian Davies. Sie suchten an abgelegenen Orten nach Antibiotika-produzierenden Organismen und fanden sie in der Gobiwüste, in den Steppen von Xinjiang, den Salzseen Boliviens, den Gletschern in British Columbia (Kanada) und an den Ufern eines Sees in Sibirien.
Ende 2018 erwähnte Quinn gegenüber Dyson, er verbringe seinen Urlaub in Boho, einem Dorf im abgelegenen Westen Nordirlands. Er würde dort sowieso Pflanzenproben nehmen, wilden Thymian und Orchideen, die auf dem kargen alkalinen Kalksteinboden wachsen. Dyson sagte ihm, er solle doch eine Erdprobe mitbringen. Vielleicht finde sich ja etwas.
Obwohl Quinn in Boho aufwuchs, kannte er die Legende von Pfarrer Mcgirr nicht. Als Quinn seine Bodenproben nahm, erzählte ihm seine Tante von den Wunderheilungen. Quinn ist nicht gläubig, er sagt, er glaube erst einmal alles. Und teste seinen Glauben. Also ging er auf den Friedhof und nahm seine Bodenprobe direkt aus Pfarrer Mcgirrs Grab. Er brachte sie ins Labor, fand Streptomyces und dessen antibiotische Stoffe. Er testete sie gegen die sechs meistverbreiteten multiresistenten Keime. Die Graberde wirkte gegen jeden einzelnen davon.
Gerry Quinn bewies in einem Aufsatz für das Fachjournal Frontiers in Microbiology, dass Pfarrer Mcgirrs Graberde antibiotische Stoffe enthält. Er hat aber eine größere Theorie: Er glaubt, dass sich viele Wunderheilungen und Pilgerstätten der Welt mit Streptomyces erklären lassen. Sein Mentor, der Chemiker Julian Davies, hat in British Columbia Heilungsrituale der dortigen First Nations, also der indigenen Völker in Kanada, untersucht und hohe Konzentrationen von Antibiotika-produzierenden Streptomyces gefunden.
In Brasilien fand Luciana Terra Streptomyces in Pflanzenheilmitteln, Forscher aus Jordanien, Russland und Chile zeigten dasselbe in ihren Ländern. Streptomyces im Boden sekretieren ihre antibiotischen, antiviralen, antimykotischen Wirkstoffe in das sie umgebende Wasser, die Erde, die Pflanzen.
Es ist schon lange bewiesen, dass Streptomyces antibiotisch wirken. Für diesen Nachweis hat Selman Waksman 1952 den Nobelpreis bekommen. Sie wirken auch gegen Läuse, Milben, Zecken und Fadenwürmer, dafür haben William C. Campbell und Satoshi Omura 2015 den Nobelpreis gewonnen. 2020 wurden aus Streptomyces gewonnene Stoffe in Laboren erfolgreich gegen Covid-19 getestet. Es gibt nur wenige Organismen, denen die Menschheit so viel medizinischen Fortschritt zu verdanken hat.
Als Quinn die Probe aus dem Grab entnommen hatte, sprach sich das im Dorf herum. Der örtliche Priester war verärgert. Die Legende von Pfarrer Mcgirrs Grab ist für ihn eine heidnische Tradition und der Ort von der katholischen Kirche nicht als Pilgerort deklariert. Der Priester sprach in einer Messe von Paganismus. Und Gerry Quinn bekam Anrufe, „viele mit F…“, sagt er. Von vielen würde er gesehen als einer, der das lokale Geheimnis, den kleinen Schrein mit seinen heilenden Kräften, aller Welt verraten hat.
Er dagegen glaubt, mit seiner Methode finde sich die Lösung für eines der größten Probleme der modernen Medizin. Bisher spricht nichts dagegen.
Paul Dyson von der Universität Swansea publizierte einen Artikel zu Quinns Forschung in Frontiers in Microbiology. Auch Julian Davies, einer der Begründer der modernen Antibiotika-forschung, steht Quinn heute beratend zur Seite. Und Wolfgang Jessner von Roche sagt: „Der Ansatz macht Sinn.“Wo es vielversprechende Forschung gebe, erwäge Roche Möglichkeiten der Zusammenarbeit. Ibrahim Banat, früher Quinns Chef in der biomedizinischen Forschungsabteilung der Ulster University, sagt: „Alles spricht historisch und anekdotisch dafür, dass es hier etwas gibt.“
„Legenden und Glaube geben Menschen Lebensmut“, sagt Quinn. „Medizin tut dasselbe.“Beide helfen mit Hoffnung. Quinn glaubt, dass das nicht die einzige Gemeinsamkeit ist. Legenden und Medizin überlappen sich häufig, glaubt Quinn, und manchmal bedingen sie sich auch.
Es wird kaum noch nach neuen Antibiotika geforscht
Im Labor kam die große Erleuchtung