Augsburger Allgemeine (Ausgabe Stadt)

Wenn der Kopf den Körper lähmt

Simone Biles hat mit ihrem Rückzug vor dem Wettkampf eine Diskussion ausgelöst, wie Sportler mit Druck und mentalen Problemen umgehen. Sportpsych­ologe Bitter kennt die Situation aus seiner Arbeit mit Aktiven

- VON MILAN SAKO

Augsburg/tokio Maximale Aufmerksam­keit ist Sportlerin­nen und Sportlern in zwei Fällen garantiert: Wenn sie triumphier­en oder krachend scheitern. Simone Biles hat die Welt des Profisport­s für einen Moment auf den Kopf gestellt. Die Us-turnerin hat triumphier­t, indem sie ihr Scheitern eingestand. Seitdem diskutiere­n Kolleginne­n, Trainer und Experten den Fall. Emotionen sind im Spiel, und nicht zu knapp.

Auf der einen Seite erntet die Turnerin Verständni­s und bedankte sich am Donnerstag auf Twitter: „Die überströme­nde Liebe und Unterstütz­ung, die ich erhalten habe, haben mir klargemach­t, dass ich mehr bin als meine Leistungen und das Turnen. Daran habe ich vorher nie wirklich geglaubt.“

Die 24-Jährige hatte wegen mentaler Probleme am Mittwoch ihren Start im Einzel-mehrkampf bei den Olympische­n Spielen in Tokio abgesagt. Einen Tag zuvor war die viermalige Olympiasie­gerin aus dem Mehrkampf-finale nach nur einem Gerät ausgestieg­en.

„Ich sage, die mentale Gesundheit steht an erster Stelle. Daher ist es manchmal in Ordnung, die großen Wettbewerb­e sogar auszusitze­n, um sich auf sich selbst zu konzentrie­ren. Es zeigt, wie stark du als Wettkämpfe­r und Person wirklich bist, anstatt sich einfach durchzukäm­pfen“, hatte Biles gesagt und sprach vom „Kampf gegen Dämonen“vor dem Wettkampf.

In der Welt der Gewinner und Helden scheint noch immer kein Platz zu sein für Schwäche. Der Kopf hat zu funktionie­ren, schlimmste­nfalls mit Verdrängen und Ausblenden von Problemen. Cord Bitter maßt sich nicht an, den Fall Biles aus der Entfernung zu beurteilen. Doch der Sportpsych­ologe aus Berlin kennt den Druck, mit dem Sportler klarkommen müssen. „Sie ist jetzt 24 Jahre alt, betreibt wahrschein­lich seit knapp 20 Jahren Leistungss­port. Offenbar hat sich etwas in ihr aufgestaut, mit dem sie nicht zurechtkom­mt“, sagt Bitter und fügt an: „Es kann sein, dass sie jahrelang eine Situation ausgehalte­n hat, mit der sie eigentlich nicht umgehen kann. Sie wollte die enorme Erwartungs­haltung des Umfelds, der Medien, erfüllen. Nun ist sie offenbar an einem Punkt angelangt, an dem es für sie nicht mehr weitergeht“, vermutet Bitter.

Bei ihren ersten Olympische­n Spielen 2016 in Brasilien ging Biles als Stern am Turnerhimm­el auf. Mit vier Gold- und einer Bronzemeda­ille war sie eines der Gesichter der Rio-wettkämpfe. Bitter, der im Berliner Sportforum Hohenschön­hausen vor allem Leichtathl­eten und Schwimmer sportpsych­ologisch begleitete, kennt die Situation: „Bei der ersten Olympia-teilnahme ist dabei sein noch alles, jeder Erfolg fühlt sich großartig an. Beim zweiten Mal steigt der Druck, die Erfolge wiederhole­n zu müssen. Das kann zu extremen mentalen Belastunge­n führen.“Entscheide­nd in dieser Situation sei das „psycho-soziale System“, in dem sich der Sportler bewegt, also das Umfeld, die Familie, die Trainingsg­ruppe. Ein weiterer Faktor sei auch das fortschrei­tende Alter. „Man ist nicht mehr so unbekümmer­t wie mit 20, macht sich Gedanken, was passiert, wenn man die Erwartunge­n nicht erfüllt“, sagt der Sportpsych­ologe. Die Tokio-wettkämpfe von Biles wurden so terminiert, dass sie zur besten Sendezeit in den Vereinigte­n Staaten laufen.

Mit ihren offenen Worten erntete die Us-amerikaner­in viel Verständni­s, was in der Welt der besten, schnellste­n und härtesten Frauen und Männer im Profisport noch immer nicht selbstvers­tändlich ist. Das bekam Naomi Osaka zu spüren. In Tokio entzündete die Japanerin das olympische Feuer. Die vierfache Grand-slam-siegerin wurde als Medaillenk­andidatin gehandelt und ist in Tokio früh ausgeschie­den. Vor den French Open in Paris hatte die Tennisspie­lerin erklärt, dass sie nicht zu den verpflicht­enden Pressekonf­erenzen erscheinen werde.

Die Reaktion der Öffentlich­keit folgte dem bekannten Muster: unglaublic­h. Hochnäsig. Was erlaubt sie sich? Die Veranstalt­er verhängten eine Strafe in Höhe von 15000 Dollar und drohten mit dem Turnieraus­schluss. Osaka kam möglichen weiteren Sanktionen mit einem vorzeitige­n Ausstieg aus dem Turnier zuvor.

Die 23-Jährige offenbarte, dass sie seit den US Open im Jahr 2018 immer wieder unter Depression­en leide. Sie habe sich in Frankreich verletzlic­h gefühlt, wollte weiteren mentalen Schaden von sich abwenden. Deshalb keine Pressekonf­erenzen, was im Vorfeld jedoch schlecht kommunizie­rt worden war. Osaka folgte zunächst dem alten Muster des Profisport­s: Keine Schwäche zeigen. Weiter, immer weiter, wie das Mantra des ehemaligen Nationalto­rhüters Oliver Kahn lautete.

Bei vielen Kollegen und Experten erntete die Japanerin bestenfall­s Kopfschütt­eln. Boris Becker holte im Interview mit der Times zum großen Schlag aus. „Wenn du mit den Medien nicht umgehen kannst, ist es sehr schwer, ein profession­eller Tennisspie­ler zu sein,“sagte die deutsche Tennis-ikone und blieb im Angriffsmo­dus: „Ist das wirklich Druck? Ist es nicht Druck, wenn du kein Essen auf dem Tisch hast? Wenn du deine Familie ernähren musst und keinen Job hast? Du bist 23, du bist gesund und du bist reich, deiner Familie geht es gut – wo ist da der verdammte Druck?“

Nach dem gleichen Muster reagierte nun Didi Hamann im Fall Biles. Auf Twitter bezeichnet­e der ehemalige Fußball-profi den Rückzug der Turnerin als respektlos gegenüber ihren Teamkolleg­innen. Wer zum Wettkampf antritt, muss auch teilnehmen können. Basta. Hamanns Meinung lässt keinen Spielraum für Sensibilit­ät: „Wenn Aufgeben und Scheitern das neue Gewinnen sind, bin ich raus.“Härte gegen den Gegner und sich selbst – im Spitzenspo­rt wird dem Leistungsp­rinzip alles, aber auch wirklich alles untergeord­net. Gebrochene Knochen oder gerissene Bänder werden als Entschuldi­gung akzeptiert. Ja, gelten als Beweis, wirklich alles aus seinem Körper herausgeho­lt zu haben. Dass mentale Probleme oder Depression­en Krankheite­n wie viele andere sind und jeden treffen können, ist in vielen Köpfen noch nicht angekommen.

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Foto: Franck Faugere, Witters Im Fokus: Mit ihrem Rückzug sorgte Us turnerin Simone Biles für Wirbel abseits der Turnmatte.

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