Augsburger Allgemeine (Ausgabe Stadt)
Weitermachen hilft nicht
Simone Biles ist ein Superstar, eine Ausnahmeathletin in der wohl populärsten Sportart für Frauen in den USA, dem Turnen. 25 Medaillen hat sie bei Weltmeisterschaften gewonnen, viermal Gold bei den letzten Spielen in Rio. Diesmal wird sie nach dem Mehrkampfsilber keine Medaille mehr holen. Sie hat einen größeren Kampf zu führen: Es geht um ihre mentale Gesundheit. Ausgangspunkt war eine misslungene Übung am Sprung. Ihre Bewegungsabläufe waren nicht mehr rund, sie wirkte unsicher. Das Phänomen, dass einstudierte, automatisierte Bewegungsprogramme nicht mehr funktionieren, gibt es in einigen Sportarten. Besonders in denen, die ein hohes Maß an Präzision bei zeitlichen und räumlichen Druckbedingungen und eine komplexe Koordination erfordern. Betroffen sind zumeist erfahrene Athletinnen und Athleten, die über Jahrzehnte ein sehr hohes Trainingspensum fahren.
Gemeint ist eine Bewegungsstörung, die unterschiedliche Namen trägt und verschiedene Gesichter zeigen kann. Im Trampolinturnen etwa spricht man vom „Lost Move Syndrom“– bestimmte Sprungelemente mit Salto und Drehung können plötzlich nicht mehr geturnt werden. Es ist, als ob das dazu gehörige Bewegungsprogramm gelöscht worden wäre. Auch im Stabhochsprung kann es dazu kommen, dass die Athletinnen und Athleten nicht mehr abspringen, sie laufen durch – ein ums andere Mal. Im Golf gibt es ein als „Yips“(lautmalerisch für einen Schluckauf) bezeichnetes Phänomen. Es tritt zumeist beim Putten auf: Im Moment, in dem der Schläger den Ball trifft, verkrampft das Handgelenk, der Schlägerkopf wackelt, der Ball wird falsch getroffen, der Putt geht daneben. Es entstehen keine Schmerzen, aber die Hand kann den Schläger nicht mehr kontrollieren. Im Bogenschießen oder Darts kann es passieren, dass die Sportler den Pfeil nicht mehr loslassen können, man spricht vom Einfrieren, dem „Freezing“– im Bogenschießen heißt es „Goldfieber“.
Das zu überwinden ist schwierig – die Bewegungsprogramme müssen neu erlernt werden; eindrucksvoll zeigte das Bryony Page im Trampolinturnen. Oder man greift zu Hilfsmitteln wie Bernhard Langer zum Longputter im Golf. Zu den Gründen forscht man derzeit intensiv. In der Öffentlichkeit ist man vor allem mit psychologischen Ursachen schnell bei der Hand – aber es können auch neurologische Gründe sein und motorische – und sehr wahrscheinlich ein sehr individueller Mix aus mehreren Faktoren. Wichtig ist es, den Bewegungseinschränkungen auf den Grund zu gehen und spezielle Maßnahmen für die Betroffenen zu entwickeln.
Krampfhaft weitermachen hilft nicht, das hat Simone Biles erkannt. Das verstehen alle und viele sprechen ihr derzeit Mut zu. Wir dürfen gespannt sein, wie ihr weiterer Weg verläuft. Das Wichtigste wird sein, dass sie die Freude und den Spaß wiederfindet, die ihr derzeit verloren scheinen.
˃ Babett Lobinger ist seit 1998 wissenschaftliche Mitarbeiterin am Psychologischen Institut der Deutschen Sporthochschule Köln (Abteilung Leistungssport). Seit 2006 ist sie Stammdozentin für Sportpsychologie im Fußballlehrer-lehrgang des DFB. Zu ihren Fachgebieten gehören unter anderem Leistungspsychologie und Talententwicklung.