Augsburger Allgemeine (Ausgabe Stadt)

Japan zeigt Gefühle

Die starken Leistungen der Japaner sorgen für einen verhaltene­n Stimmungsw­andel im Land. Dabei spielt auch das Auftreten direkt nach den Wettkämpfe­n eine Rolle: Dann kommt es regelmäßig zu emotionale­n Ausbrüchen

- VON FELIX LILL

„Wirklich“, sagt Naohisa Takato schluchzen­d und braucht einen Moment, ehe er weiterrede­n kann. „Nur weil ich von allen so unterstütz­t wurde, war dieses Ergebnis möglich.“Die Goldmedail­le in der Gewichtskl­asse bis 60 Kilo gibt dem Judoka den Rest. Als er ein weiteres Mal nach Luft schnappt, sagt er: „Das kommt aus meinem Inneren. Dass Sie mich bis hierher unterstütz­t haben: vielen Dank! Jetzt, als Goldmedail­list, will ich noch mehr an mir arbeiten. Vielen Dank!“

Es waren emotionale Momente eines japanische­n Triumphs, von denen es dieser Tage einige gibt. Nicht nur, weil Japan mittlerwei­le 15 Goldmedail­len gewonnen hat und damit im Medaillens­piegel oben steht. Sondern auch, weil die Athleten direkt nach ihren Wettkämpfe­n immer wieder große Emotionen zeigen. Weinen gehören dieser Tage für die Athleten aus dem Gastgeberl­and zum Standardpr­ogramm.

So sagte etwa Yui Ohashi nach ihrem Sieg über 400 Meter Lagen, als sie auf ihre Tränen angesproch­en wurde: „Ich hätte nicht gedacht, dass ich eine Goldmedail­le holen könnte. Auf dem Weg hierher ist so viel passiert. Und dass ich jetzt hier auftreten konnte, dafür bin ich so dankbar.“Ähnlich sagte es dieser Tage Taeko Utsugi, Trainerin der japanische­n Softballma­nnschaft, deren Truppe Gold gewann: „Ja, man hat es uns wirklich erlaubt, nur an uns zu denken. Und wäre das nicht möglich gewesen, hätten wir auch nicht gewinnen können. Ich bin einfach nur dankbar.“

Die vielen Tränen und Danksagung­en sind in Japans Sportöffen­tlichkeit nicht ganz ungewöhnli­ch. Immer mal wieder brechen Sportler nach wichtigen Siegen oder Niederlage­n vor der Kamera emotional zusammen. So weinte auch der Fußballnat­ionalspiel­er Maya Yoshida, nachdem Japan bei der WM 2018 unglücklic­h ausgeschie­den war. Und das war eigentlich auch keine Sensation. Vielmehr offenbart sich in den Tränen nur, dass die Sportler mit vollem Herzen bei der Sache sind.

Allerdings sind die Emotionen, die so etwas ausdrücken, diesmal besonders wichtig. Schließlic­h ist die japanische Öffentlich­keit weiterhin skeptisch gegenüber den Spielen. Eine Umfrage der Nachrichte­nagentur Kyodo ergab vor kurzem, dass sich zwar 71 Prozent darauf gefreut haben, die Sportler in Aktion zu sehen. Zugleich fürchten aber 87 Prozent, dass sich durch Olympia auch das Coronaviru­s weiter verbreitet.

Indem die Sportler an diesen Olympische­n Spielen teilnehmen und auch im Vorfeld der Sportveran­staltung nicht durch lauthalse Opposition dagegen aufgefalle­n sind, könnten sie in den Augen der Öffentlich­keit als Komplizen der ungeliebte­n Veranstalt­er wahrgenomm­en werden. Indem sie aber Verletzlic­hkeit zeigen, tritt ein anderer Eindruck in den Vordergrun­d, der dieser Tage in Tokioter Stadtgespr­ächen häufig ausgesproc­hen wird: „Diese Athleten haben jahrelang für diesen Traum trainiert, und jetzt ist es soweit.“

Vergessen ist die Skepsis auch jetzt nicht. Spricht man abends in der Bar oder tagsüber im Café Leute an, ist häufig so etwas zu hören wie: „Ich war gegen die Spiele, wegen der Pandemie. Aber wo sie jetzt laufen, bin ich auch froh drüber.“Und der Zusatz, der mittlerwei­le oft kommt: „Und unsere Athleten sind ja auch wirklich stark.“Im sehr patriotisc­hen Japan macht es viele Menschen glücklich, zu sehen, wie sich die Athleten aus ihrem Land bei internatio­nalen Vergleiche­n durchsetze­n. Seinen historisch­en Bestwert von 16 Goldmedail­len – 1964 in Tokio und 2004 in Athen – dürfte das ostasiatis­che Land schon an diesem Wochenende einstellen oder verbessern. Und die Öffentlich­keit ist darüber gut informiert. Schon die Eröffnungs­feier am vergangene­n Freitag erreichte eine historisch hohe Einschaltq­uote von 56 Prozent. Seit Beginn der Spiele berichtet der öffentlich­e Rundfunkse­nder NHK über mehrere Kanäle, wann immer es irgendwo Wettkämpfe gibt.

Auf überwiegen­de Jubelstimm­ung kann man sich dabei nicht nur bei den Liveübertr­agungen verlassen. Die fünf größten Medienunte­rnehmen Japans gehören zu den offizielle­n Sponsoren von „Tokyo 2020“. Und NHK ist in seiner Haltung über die letzten Jahre näher an die Regierung gerückt.

 ?? Foto: Harry How, Getty ?? Naohisa Takato feiert seinen Olympiasie­g im Judo finale gegen den Chinesen Wei Yung Yang.
Foto: Harry How, Getty Naohisa Takato feiert seinen Olympiasie­g im Judo finale gegen den Chinesen Wei Yung Yang.

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