Augsburger Allgemeine (Ausgabe Stadt)
Musikalischer Balsam für das Gemüt
Dieser Pianist weiß, wie er sein Publikum fröhlich stimmt – nicht über das zuvor und das danach nachdenken, sondern den Augenblick genießen. Ramón Valles Auftritt beim Jazzsommer hinterlässt gute Laune
Probleme? Was für Probleme? Etwa weil die Musiker des dritten Konzertes des diesjährigen Augsburger Jazzsommers aus den Niederlanden und Spanien anreisen, die seit Dienstag wieder als Hochinzidenzgebiete gelten? Kriegen wir doch locker gewuppt! Unter Einhaltung aller bekannten Regularien des RKI seien Ramón Valle, Omar Rodriguez Calvo, Enrique Firpi und Perico Sambeat – weil doppelt oder zumindest teilweise geimpft – wohlbehalten in der Stadt angekommen und würden sich sehr auf das längst ausverkaufte Konzert freuen, berichtet der künstlerische Leiter Tilmann Herpichböhm vor dem ersten Ton mit einem verschmitzten Grinsen. Und überhaupt Corona: „Ich hoffe, dass die Pandemie bald der Vergangenheit angehört“, spricht Valle vielen der Gäste aus der Seele. Ein bisschen mutet das wie das berühmte Pfeifen im Wald an, angesichts täglich steigender Fallzahlen in seiner Wahlheimat Amsterdam, aber auch in Deutschland. Doch der Pianist verrät sein ureigenes Rezept gegen Miesepeterei: „Bleiben Sie immer ein bisschen Kind. Dann geht vieles leichter!“
Da ist was dran. Wenn wir eines lernen können von Menschen, die sich tagaus-tagein in helleren Gefilden tummeln und so ihren Serotonin-spiegel auf einem gleichmäßig hohen Niveau halten, dann ist es der ebenso platte wie doch immer wieder zutreffende Satz, den bereits Oscar-preisträger Roberto Begnini postulierte: Das Leben ist schön! machen Sonnenstrahlen wirklich bessere Menschen, aber auf jeden Fall bessere, interessantere Musiker. Ramón Valle zum Beispiel stammt aus Kuba, ebenso wie Omar Rodriguez Calvo, Enrique Firpi aus Uruguay und Perico Sambeat, der das putzmuntere Trio an diesem Abend mit seinem Altsaxofon zum Quartett erweitert, aus Spanien. Alles lichtdurchflutete Länder. Genauso klingt ihre frenetisch bejubelte, gut zweistündige Performance im abendlich kühlen Botanischen Garten: Rennen, Springen, Toben, Lachen, Spielen, Sich-wohlfühlen und nicht über das davor und danach nachdenken – kindliches Gemüt.
So etwas steckt an. Das Publikum sitzt nicht in Strandkörben, sondern allein oder zu zweit nebeneinander. Fast wie immer. Die Leute genießen, schließen die Augen, wippen mit dem Oberkörper oder dem Fuß und lachen. Eigentlich normal für Jazzkonzerte, aber außergewöhnlich im starren Regularienkorsett der Pandemie. Dabei entsteht ein Wechselspiel, in dem beide Seiten voneinander profitieren. Die Musiker genießen ihre Liveperformance ebenso hörbar wie die Menschen in Augsburg, die der „Typ mit dem Turm auf dem Kopf“(so nennt Valle seine Frisur) mit kleinen Geschichten am Piano und zwischen den Stücken verzaubert und in seine Welt mitnimmt. Schon zum Bassintro von Rodriguez Calvo scheint er vor Spielfreude schier überzulaufen und singt „Quantanamera“, um dann sein Leben in Noten auszubreiten, beginnend mit „A Cuban Loss“, seinem verarbeiteten Heimweh-schmerz nach der Flucht von der Zuckerrohrinsel.
Aus vertrauten kubanischen Träumereien heraus mutiert ein burschikoser, erwachsener Blues mit Ecken und Kanten, der auch in New York jeder Qualitätsprüfung standhalten würde. Ein Sammelsurium kubanischer Musikstile wie Guajira oder die bäuerliche Música campesina schimmert in „Te Extraño“(Ich vermisse dich) durch, das Ramón Valle schrieb, als er am Telefon die Nachricht vom Tod seiner Mutter empfing. „Mama, das ist für dich“, kündigte er das Stück mit stockender Stimme an. Es folgen zehn schwelgende, innige, wunderschöne Minuten intimer Erinnemöglicherweise rung, die jede Zuhörerin, jeder Zuhörer nachempfinden kann. Auch seine mithin bekannteste Komposition „Levitando“passt auf den Punkt. Oft gespielt und gehört, wuselt das Stück in Augsburg im atemlosen Tempo mit farbensprühenden Improvisationen sowie versteckten Zitaten durch die Taktstriche, seine fünf Schwestern feiert er mit einer Tour de Force in Sachen Rhythmus, aufgepeppt durch Perico Sambeats pointiertes Altsaxofon, das in seiner konsequenten Stringenz ein bisschen an David Sanborn erinnert.
Fast immer hört man bei Ramón Valles Klavierspiel die klassische Ausbildung durch, die ihm seine Eltern auf Kuba angedeihen ließen. Üppige Melodiebögen, dramatische Erhöhungen, kultivierter Anschlag und stupende Virtuosität – aber nie als Nabelschau, sondern maximal als Transportmittel für sein Füllhorn an Botschaften. Ebenso feiert er Ernesto Lecuona, den „kubanischen Gershwin“mit einem seiner Werke – spritzig, feurig, unbeschwert. Das ganze Konzert wirkt wie ein überschäumendes Kaleidoskop, in einer vitalen musikalischen Biografie, in der sich die kubanischen Wurzeln mit den Einflüssen europäischer Klassik und jazziger Moderne verbinden. Brodelnde Dance-grooves wechseln mit erdig Balladeskem, leise Melancholie trifft auf den ungebremsten Spaß am Fabulieren.
Dass die kindliche Naivität im allerbesten Wortsinn höchst professionell und authentisch das Publikum erreicht, liegt nicht zuletzt an der wunderbaren Begleitcrew, bei der sich Omar Rodriguez Calvo am Kontrabass (bekannt aus dem Tingvall Trio) als ebenso temperamentvoller wie akkurater Begleiter erweist, und Enrique Firpi mit seinem anschmiegsamen Drumming mehr als einmal die davongaloppierenden Gäule einfängt. Wohl dem, der solche Sidemen an seiner Seite weiß!
Am Ende, als die Leute schon frösteln und bibbern, wechselt Ramón Valle sogar das Instrument: Statt des Pianos spielt er nun das Publikum, steht auf, dreht sich nach allen vier Seiten des Pavillons, drückt unsichtbare Tasten und dirigiert zum beliebten gemeinsamen Schluss-gebrummel. Das macht gute Laune für den Nachhauseweg und garantiert auch für den Tag danach. Muchas Gracias!