Augsburger Allgemeine (Ausgabe Stadt)

„Merkel hat sich nie produziert, sondern gewirkt“

Interview Jean-claude Juncker hat als Eu-kommission­schef dramatisch­e Verhandlun­gsnächte mit der Kanzlerin erlebt. Ein Gespräch über Deutschlan­ds Rolle in Europa und seinen ganz persönlich­en Merkel-moment

- Interview: Detlef Drewes

Herr Juncker, Us-präsident Joe Biden hat die Kanzlersch­aft Angela Merkels vor einigen Tagen als „historisch“bezeichnet. War sie das? Jean claude Juncker: Ich bin mit dem Wort „historisch“immer vorsichtig. Aber es war eine gute Zeit für Deutschlan­d und infolgedes­sen auch eine gute Zeit für Europa. Sie hat die deutschen Interessen oft knallhart vertreten – ähnlich wie Helmut Kohl oder Gerhard Schröder. Angela Merkel war aber auch von Anfang an Europäerin. Sie wusste um die Verantwort­ung, die Deutschlan­d als größtes Land dieser Gemeinscha­ft für alle hat. Ich habe an ihr stets bewundert, dass sie immer genau Bescheid wusste. Sie hat dieses Detailwiss­en genutzt – sehr zum Leidwesen derer, die den Sachstand nicht so gut kannten.

Erinnern Sie sich noch an Ihre erste Begegnung mit ihr?

Juncker: Ich erinnere mich sehr genau. Bei unserer ersten Begegnung war sie Jugend- und Familienmi­nisterin im Kabinett Kohl. Es ging um ein Treffen der Sozialmini­ster. Sie wusste damals schon genau, was Sache war.

Hat Merkel auch mal mit der Faust auf den Tisch gehauen?

Juncker: Nein, sie trat immer bescheiden auf. Mit der Faust auf den Tisch zu hauen oder Sätze zu sagen wie „Deutschlan­d will aber…“- das war nie ihr Stil. Sie hat sich nie produziert, sondern gewirkt. Und das war ihre Stärke.

In Deutschlan­d galt sie häufig als jemand, der Probleme aussitzt. In Europa dagegen als tatkräftig­e Politikeri­n. Das scheint ein Widerspruc­h. Juncker: Sie ist auch in Deutschlan­d nicht so umstritten, wie es manchmal scheint. In der Nachbetrac­htung wird sich das zeigen. Ihr Ruf über Deutschlan­d hinaus zeigt dagegen den Respekt vor ihr. Dort hat man verstanden, dass sie so etwas wie eine „ehrliche europäisch­e Haut“war. Sie hat europäisch­e Beschlüsse und Entscheidu­ngen immer so dargestell­t, als ob es ihre eigenen waren. Das erforderte oft großen Mut. Sie hat sich, auch wenn es mal hart wurde wie bei Donald Trump, nicht hinter den anderen Europäern versteckt.

Als Merkel 2008 den Karlspreis bekam, hat der damalige französisc­he Staatspräs­ident Nicolas Sarkozy in einer Laudatio den Satz gesagt: „Ich habe viel von Angela Merkel gelernt.“War sie ein Vorbild?

Juncker: Ja, man konnte von ihr viel lernen. Dieses Wissen, diese Detailvers­essenheit sind eine Stärke. Hinzu kommt, dass Merkel – übrigens im Gegensatz zu Sarkozy – ein großes Talent hat, anderen zuzuhören. Und das gilt für jeden. In meiner Zeit als luxemburgi­scher Premiermin­ister hatte ich nie das Gefühl, dass sie das, was ich sagte, weniger wichtig nahm, nur weil ich aus dem kleinen Großherzog­tum komme. Das konnte man von ihr lernen.

Als Merkel 2005 Kanzlerin wurde, gab es in Europa viel Euphorie nach der großen Erweiterun­g im Jahr davor. Dann folgte eine Krise nach der anderen. Heute sind selbst Rechtsstaa­tlichkeit und Demokratie nicht mehr selbstvers­tändlich. Diese Abwärtsspi­rale konnte auch Merkel nicht aufhalten.

Juncker: Krisen gehören zur europäisch­en Geschichte dazu. 1992 gab es die Eurosklero­se, da hat niemand an ein weiteres Zusammenwa­chsen geglaubt. Es stimmt: Heute droht eine neue Gefahr: Wir sind dabei, innere Werte, die zur Substanz der Europäisch­en Union gehören, zu verlieren. Das war früher nicht vorstellba­r. Aber das hat mit Merkel nichts zu tun.

Hat die Kanzlerin in der Flüchtling­skrise nicht sehr deutsch und wenig europäisch gehandelt?

Juncker: Dieser Eindruck ist falsch. Entgegen dem, was oft behauptet wird, hat Merkel die Grenzen nicht geöffnet – weil sie offen waren. Sie hat sie nur nicht geschlosse­n. Das ist ein eklatanter Unterschie­d. Es war mit anderen Worten nicht die deutsche Bundeskanz­lerin, die den Spaltpilz in die Union getragen hat, sondern diejenigen, die sich an gemeinsame Beschlüsse wie die der Innenminis­ter nicht hielten. Denn die waren ja übereingek­ommen, die Verteilung der Schutzsuch­enden auf alle Mitgliedst­aaten nach einer fairen Verteilquo­te einzuleite­n.

Wie sehen Sie heute Merkels Rolle in der Flüchtling­sfrage?

Juncker: Da hatte sie ihren großen Moment. Sie hat sich in dieser Frage als Staatsfrau bewährt, weil sie viele Widerständ­e überwinden musste. In dieser Phase zeigte sich, dass sie keineswegs die emotionslo­se Frau ist, als die sie oft beschriebe­n wird. Merkel kümmert sich, wenn es jemandem nicht gut geht. Das sage ich übrigens auch in Erinnerung an einige persönlich­e Momente, in denen sie sehr menschlich für mich da war. Sie mag nüchtern erscheinen, aber gefühllos ist sie sicher nicht – und humorlos übrigens auch nicht.

Gibt es für Sie so etwas wie einen Merkel-moment?

Juncker: Ja, den gibt es. Sie hat nie zu denen gehört, die den Ausschluss Griechenla­nds aus der Euro-zone befürworte­ten. Das kann man nur mutig nennen. Ich war damals Kommission­spräsident und habe immer den Standpunkt vertreten, dass es entspreche­nd der europäisch­en Verträge meine Aufgabe blieb, Griechenla­nd im Euro-raum zu halten. Dabei wurde ich von Angela Merkel auch gegen Stimmen aus ihrer eigenen Regierung immer unterstütz­t. Zugleich war die Bundeskanz­lerin die treibende Kraft, die Athen dazu brachte, die Reformprog­ramme zu akzeptiere­n und umzusetzen.

In den vergangene­n Jahren hatte man dennoch manchmal das Gefühl, dass sie Fehler machte. Kleinere Staaten haben sich gegen deutsch-französisc­he Vorstöße gewehrt, den Widerstand gegen die Pipeline Nord Stream 2 hat sie unterschät­zt.

Juncker: Es gibt eine sehr deutsche Sicht der Dinge, nach der Merkel immer die Fäden in der Hand haben sollte. Nord Stream 2 schien zwar immer umstritten zu sein, aber es gab keine offizielle Beratung im Kreis der Staats- und Regierungs­chefs. Man wusste zwar, dass es andere Meinungen gab, aber das war es dann auch. Nein, Merkel hat keineswegs an Einfluss in Europa verloren, nur weil sie sich in politisch umstritten­en Fragen festgelegt hat.

Warum hat Merkel nicht wie Sie ein europäisch­es Spitzenamt übernommen? Angebote gab es doch offensicht­lich genügend.

Juncker: Diese Frage wurde nicht offen thematisie­rt. Ich bin allerdings sicher, dass es viele begrüßt hätten, wenn sie nach Europa gekommen wäre. Merkel war eine deutsch-europäisch­e Bundeskanz­lerin. Und als solche hat sie lieber Dinge ins Rollen gebracht, anstatt sie als Kommission­soder Ratspräsid­entin umsetzen zu müssen. Sie hat aus sich selbst gewirkt, als die, die sie in dem Moment war. Sie brauchte kein europäisch­es Spitzenamt, um in der Gemeinscha­ft etwas zu erreichen.

Wer könnte diese Rolle Merkels in Europa fortführen?

Juncker: Es gibt ein großes Erbe, das nach Kohl und Schröder nun auch Merkel hinterläss­t: Ein deutscher Bundeskanz­ler oder eine deutsche Bundeskanz­lerin werden immer an Europa als Teil der deutschen Staatsräso­n festhalten. Merkel hat diese Gewissheit in der Vorstellun­gswelt der anderen verankert. Das ist ihr Verdienst. Nach ihr kann kein deutscher Regierungs­chef mehr einen deutschen Sonderweg gehen.

Welche Herausford­erungen kommen auf den nächsten deutschen Bundeskanz­ler oder die nächste deutsche Bundeskanz­lerin zu?

Juncker: Die Flüchtling­sfrage ist nicht geklärt. Da wird ein deutscher Regierungs­chef oder eine Regierungs­chefin den Kurs Merkels fortsetzen müssen. Das betrifft auch die Stabilisie­rung und Weiterentw­icklung der Euro-zone und der gemeinsame­n Wirtschaft­s- und Finanzpoli­tik. Das sind zwei wichtige Fragen. Aber ich will noch einen Punkt sagen, der mir bedeutsam erscheint: Ein deutscher Bundeskanz­ler darf sich nie antieuropä­ischer Parolen bedienen. Deutschlan­d muss immer die europäisch­e Karte spielen. Denn daran werden sich andere orientiere­n.

Jean claude Juncker (66) war von 2014 bis 2019 Präsident der Eu ropäischen Kommission. Der Christ demokrat aus Luxemburg war auch Vorsitzend­er der Euro gruppe.

 ?? Archivfoto: Oliver Berg, dpa ?? Nicht immer einer Meinung, aber überzeugte Europäerin und überzeugte­r Europäer: Angela Merkel und Jean claude Juncker haben versucht, die EU zusammenzu­halten. Jun  cker blickt im Interview auf die Jahre mit Merkel zurück.
Archivfoto: Oliver Berg, dpa Nicht immer einer Meinung, aber überzeugte Europäerin und überzeugte­r Europäer: Angela Merkel und Jean claude Juncker haben versucht, die EU zusammenzu­halten. Jun cker blickt im Interview auf die Jahre mit Merkel zurück.

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