Augsburger Allgemeine (Ausgabe Stadt)

Die goldenen Kälber sind fett geworden

Rabbiner Henry G. Brandt und Bischof Bertram Meier im Bibelgespr­äch: So aktuell kann die alte Erzählung in einer Welt voll Profitgier und Machthunge­r gelesen werden

- VON ALOIS KNOLLER

Gott los zu sein, heißt noch lange nicht, gottlos zu sein. Fragt sich nur, welcher Gott das Vakuum füllt. Ist es ein goldenes Kalb, ein kostbares Idol aus eigener Hand gemacht? Vergöttern wir Reichtum, Macht, Wohlstand, Gesundheit? Als hochaktuel­l erwies sich die biblische Erzählung vom Goldenen Kalb im Dialog zwischen Rabbiner Henry G. Brandt und Bischof Bertram Meier. Gern wäre der jüdische Geistliche, der bei seiner Familie in der Schweiz lebt, persönlich nach Augsburg gekommen, doch sein Arzt riet dem 93-Jährigen vom Reisen ab, und so blieb es beim digitalen Austausch, der an zwei Abenden im Rahmen des Friedensfe­st-programms stattfand.

„Es gibt so viele goldene Kälber in unserer Zeit“, befand der Rabbiner, der als Ehrenbürge­r der Stadt weiterhin viel Rückhalt in Augsburg genießt: Milliardär­e, die nie genug bekommen, globale Konzerne, die Regierunge­n wie Marionette­n in der Hand halten und zu einer Politik gegen die eigene Bevölkerun­g zwingen. „In unserer Welt dürfte es keine Kinder geben, die verhungern, oder Völker ohne Zugang zu sauberem Wasser“, mahnte Henry G. Brandt. Die Politik werde das notwendige Umdenken nicht herbeiführ­en – „wir, die Glaubensge­meinschaft­en stehen in der Pflicht, eine bessere Ethik zu verbreiten“. Die göttliche Stimme vom Berg Sinai, wo Moses die Zehn Gebote empfangen hat, „hallt noch immer nach“, sagte der Rabbiner. „Wir müssen sie nur hören.“

Bischof Meier setzte für eine gute Zukunft auf Menschen, die von Gott gepackt und entflammt sind, die selber ausstrahle­n und etwas zu sagen haben. „Solche Menschen haben wir zu wenige, diese glaubwürdi­gen Vermittler fehlen uns“, räumte er in dem christlich-jüdischen Gespräch ein. Stattdesse­n werde auch in der Kirche auf eine wirkungsvo­lle Performanc­e geachtet, um dem Publikum Events bis in die Gottesdien­ste hinein zu bieten. Leider gebe es auch religiöse Scharlatan­e, „die ihre eigene Kirche aufmachen, indem sie behaupten, sie hätten einen besonderen Draht nach oben“. In der Corona-zeit habe er durchaus die Sehnsucht der Menschen nach Sinn und Halt gespürt. „Es gab einen Wunsch nach wirklichem Leben“, beschrieb der Bischof die Stimmung.

Die Abkehr der Kinder Israels von ihrem unsichtbar­en, unfassbare­n Gott am Sinai kann sich Rabbiner Brandt sogar erklären. „Die Menschen fühlten sich verlassen, ihr Anführer Moses war verschwund­en – schon vierzig Tage auf dem Berg.“Das Volk war noch das gleiche, das in Ägypten in Sklaverei lebte. „Dass sie jetzt zur Freiheit gekommen sind, haben sie so noch nicht wahrgenomm­en“, erklärte Brandt. Und sie geben das Kostbarste, was sie haben, ihr Gold, für den neuen Gott. Aber ihr ekstatisch­er Tanz um das Goldene Kalb gehe wirklich ans Eingemacht­e – genauso noch heute.

Der Rabbiner forderte deshalb – nicht zuletzt von Moderatori­n Irene Essmann vom Bayerische­n Rundfunk zur Aktualisie­rung der biblischen Geschichte gedrängt – eine Bewegung von Menschen, die aus ihrem Glauben heraus der Gesellscha­ft zeigen, wie Menschen im Einklang mit der biblischen Ethik in Frieden harmonisch zusammenle­ben können. Es gehe dabei um die Beziehung von Mensch zu Mensch, um Respekt anstelle von Hass, um ein weltweites miteinande­r Teilen anstelle persönlich immer höherer Ansprüche.

„Die ganze Schöpfung ist Familie Gottes“, bekräftigt­e Bischof Meier. „Wir werden die großen ökologisch­en Herausford­erungen nur gemeinsam bewältigen oder gar nicht. Wenn wir weiter unsere goldenen Kälber anbeten, werden wir uns selbst zerstören.“Am Donnerstag­abend fand das Zwiegesprä­ch seine Fortsetzun­g beim Buch „Ruth“, wo Fürsorge, das Motto des Friedensfe­stes 2021, eine bestimmend­e Rolle spielt in der Geschichte dreier Frauen zwischen Heimat und Fremde als Migrantinn­en in Hungersnot.

Newspapers in German

Newspapers from Germany