Augsburger Allgemeine (Ausgabe Stadt)
Heinrich Mann: Der Untertan (126)
Diederich Heßling, einst ein weiches Kind, entwickelt sich im deut schen Kaiserreich um 1900 zu einem intriganten und herrischen Menschen. Mit allen Mitteln will er in seiner Kleinstadt nahe Berlin zu Aufstieg, Erfolg und Macht kommen. Heinrich Mann zeichnet das Psychogramm eines Nationalisten. ©Projekt Gutenberg
Die vaterlandslosen Feinde der göttlichen Weltordnung aber, die unsere staatliche Ordnung untergraben wollen, die sind auszurotten bis auf den letzten Stumpf, damit, wenn wir dereinst zum himmlischen Appell berufen werden, daß dann ein jeder mit gutem Gewissen vor seinen Gott und seinen alten Kaiser treten kann, und wenn er gefragt wird, ob er aus ganzem Herzen für des Reiches Wohl mitgearbeitet habe, er an seine Brust schlagen und offen sagen darf: Ja!“Wobei Diederich sich einen solchen Schlag auf die Brust versetzte, daß ihm die Luft ausblieb. Die notgedrungene Pause, die er eintreten ließ, benutzte die Ziviltribüne, um durch Unruhe zu bekunden, daß sie seine Rede für beendet halte; denn das Gewitter stand jetzt genau über den Köpfen der Festversammlung, und im schwefelgelben Licht, einzeln, langsam und als warnten sie, klopften immerfort diese eigroßen Regentropfen. Diederich hatte wieder Luft. „Wenn jetzt die Hülle fällt“, begann er mit neuem Schwung, „wenn zum Gruß die Fahnen und Standarten sich neigen, die Degen sich senken und Bajonette im Präsentiergriff blitzen.“Da krachte es im Himmel so ungeheuerlich, daß Diederich sich duckte und, bevor er es sich versah, unter seinem Pult hockte. Zum Glück kam er wieder hervor, ohne daß sein Verschwinden bemerkt worden wäre, denn allen war es ähnlich ergangen. Kaum daß noch jemand hörte, wie Diederich Seine Exzellenz den Herrn Oberpräsidenten bat, er möge geruhen zu befehlen, daß die Hülle falle. Immerhin trat der Oberpräsident vor das offizielle Zelt hinaus, er war gelber, als es seine Natur war, das Funkeln seines Sterns war erloschen, und er sagte schwach: „Im Namen Seiner Majestät befehle ich: Die Hülle falle“– worauf sie fiel. Auch ertönte die Wacht am Rhein. Und der Anblick Wilhelms des Großen, wie er durch die Luft ritt, in der Haltung eines Familienvaters, aber umringt von allen Furchtbarkeiten der Macht, stählte die Untertanen noch einmal gegen die Drohungen von oben, das Kaiserhoch des Oberpräsidenten fand lebhaften Widerhall. Freilich, die Klänge von „Heil dir im Siegerkranz“gaben Seiner Exzellenz das Zeichen, daß sie sich nun bis an den Fuß des Denkmals zu begeben, es zu besichtigen und den Schöpfer, der schon wartete, durch eine Anrede auszuzeichnen hatten. Jeder begriff es, daß der hohe Herr zweifelnd den Blick zum Himmel richtete; aber, wie nicht anders zu erwarten stand, siegte sein Pflichtgefühl, und siegte um so glänzender, als er der einzige Herr im Frack war unter so vielen tapferen Militärs. Er wagte sich kühn hinaus, hin ging er unter den großen, langsamen Tropfen, und mit ihm Ulanen, Kürassiere, Husaren und Train. Schon war die Inschrift „Wilhelm der Große“zur Kenntnis genommen worden, der Schöpfer, durch eine Anrede ausgezeichnet, bekam seinen Orden, und gerade sollte auch der geistige Schöpfer Heßling vorgestellt und geschmückt werden, da platzte der Himmel. Er platzte ganz und auf einmal, mit einer Heftigkeit, die einem lange verhaltenen Ausbruch glich. Bevor noch die Herren sich umgedreht hatten, standen sie im Wasser bis an die Knöchel, Seiner Exzellenz lief es aus Ärmeln und Hosen. Die Tribünen verschwanden hinter Stürzen Wassers, wie auf fern wogendem Meer erkannte man, daß die Zeltdächer sich gesenkt hatten unter der Wucht des Wolkenbruches, in ihren nassen Umschlingungen wälzten links und rechts sich schreiende Massen. Die Herren Offiziere machten gegen die Elemente von der blanken Waffe Gebrauch, durch Schnitte in das Segeltuch bahnten sie sich den Ausweg. Das Zivil gelangte nur als graue Wickelschlange hinab, die mit wilden Zuckungen im überschwemmten Gelände badete. Unter solchen Umständen sah der Oberpräsident es ein, daß der weitere Verlauf des Festprogramms aus Zweckmäßigkeitsrücksichten zu unterbleiben habe. Blitzeumlodert und wasserspritzend wie ein Springbrunnen, trat er einen beschleunigten Rückzug an, und ihm nach der Flügeladjutant, die beiden Divisionsgenerale, Dragoner, Husaren, Ulanen und Train. Unterwegs erinnerten Seine Exzellenz sich des noch immer an ihrem Finger hängenden Ordens für den geistigen Schöpfer, und pflichttreu bis zum Äußersten, aber bestrebt, jeden Aufenthalt zu vermeiden, händigten sie ihn, laufend und wasserspritzend, dem Präsidenten von Wulckow aus. Wulckow seinerseits begegnete einem Schutzmann, der den Ereignissen noch standhielt, und betraute ihn mit der Übergabe der Allerhöchsten Auszeichnung, worauf der Schutzmann durch Sturm und Grausen irrte, auf der Suche nach Diederich. Schließlich fand er ihn unter dem Rednerpult im Wasser hockend. „Da hamse ’n Willemsorden“, sagte der Schutzmann und machte, daß er weiterkam, denn gerade schlug ein Blitz ein, so nahe, als sollte er die Verleihung des Ordens verhindern. Diederich hatte nur geseufzt.
Als er es endlich unternahm, mit einer Gesichtshälfte auf die Erde zu spähen, war der Umsturz auf ihr noch immer im Wachsen. Drüben die große schwarze Brandmauer klaffte und ging daran, umzufallen, samt dem Haus dahinter. Über einem Knäul von Geschöpfen in jagendem Geisterlicht, schwefelgelb und blau, bäumten sich die Pferde der Paradekutschen und nahmen Reißaus. Glücklich das nicht privilegierte Volk, das draußen und über alle Berge war; die Besitzenden und Gebildeten dagegen waren in der Lage, daß sie auf ihren Köpfen schon die fliegenden Trümmer des Umsturzes fühlten, samt dem Feuer von oben. Kein Wunder, wenn die Umstände ihr Verhalten bestimmten und manche Damen, in nicht kommentmäßiger Weise vom Ausgang zurückgestoßen, schlankweg übereinanderrollten. Nur ihrer Tapferkeit vertrauend, machten die Herren Offiziere gegen jeden, der sich ihnen entgegenstellte, von ihren Machtmitteln Gebrauch – indes Fahnentücher, losgerissen im Sturm von den Überresten der Tribünen und des offiziellen Zeltes, schwarz-weiß-rot durch die Luft sausten, den Kämpfern um die Ohren. Dazu, hoffnungslos, wie die Dinge standen, spielte die Regimentsmusik immer weiter „Heil dir im Siegerkranz“, spielte selbst nach der Durchbrechung des Militärkordons und der Weltordnung, spielte wie auf einem untergehenden Schiff dem Entsetzen auf und der Auflösung. Ein neuer Anlauf des Orkans warf auch sie auseinander – und Diederich, die Augen zugedrückt und schwindelnd des Endes von allem gewärtig, tauchte zurück in die kühle Tiefe seines Rednerpultes, das er umklammerte wie das Letzte auf Erden. Sein Abschiedsblick aber hatte umfaßt, was über alle Begriffe war: das Gehege, das schwarz-weiß-rot behangene rund um den Volkspark, zusammengebrochen, niedergelegt durch das Gewicht der auf ihm Lastenden, und dann dies Drunter und Drüber, dies Umeinanderkugeln, Sichaufhäufen und Abrutschen, dies Kopfstehen und Dem-andern-sichins-gesicht-setzen – und dies Gefegtwerden von den Peitschen der Höhe, unter Strömen Feuers, diesen Kehraus, wie der einer betrunkenen Maskerade, Kehraus von Edel und Unfrei, vornehmstem Rock und aus dem Schlummer erwachtem Bürger, einzigen Säulen, gottgesandten Männern, idealen Gütern, Husaren, Ulanen, Dragonern und Train! »127 Fortsetzung folgt