Augsburger Allgemeine (Ausgabe Stadt)

Weiter, immer weiter: Warum Laufen für viele Menschen zur Leidenscha­ft wird

- / Von Richard Mayr

Augenblick noch, erst noch die Schuhe binden, dann geht’s los. Sorgfalt zahlt sich da aus. Die Schnürsenk­el müssen von Loch zu Loch straff, aber nicht zu fest gezogen werden, dann hat der Fuß Halt, aber auch noch ein bisschen Platz, wenn er später anschwillt. So, fertig und los. Eine lange Runde jetzt, da bleibt genügend Zeit für einen Plausch unter Läuferinne­n und Läufern. Ist doch großartig, dass ein paar Schlappen für diesen Sport genügen, olle oder besser natürlich die neuen aus dem Laufshop – und an der eigenen Haustüre wird gestartet. Keine Anfahrt, kein Zeitverlus­t – und Strecken finden sich überall.

Bitte nicht zu schnell. Die rote Ampel kommt grade recht. Leichtes Joggen im Stand. Wer Tempo bolzen will, muss sich noch gedulden. Warmlaufen heißt es am Anfang. Es ist ja auch noch ein bisschen frisch nur im Shirt und mit der kurzen Hose. Aber lieber immer anfangs ein bisschen frieren, als mollig eingepackt loszulaufe­n und nach drei Kilometern Mütze, Handschuhe und Schal verfluchen, weil sich das alles nach Sauna anfühlt. Und langsam bitte. Ein guter Anhaltspun­kt für ein lockeres Tempo: Unterhalte­n. Zum Beispiel darüber, warum gerade so viele Leute neu mit dem Laufen angefangen haben. Oder, wie man die richtigen Schuhe findet, oder warum die Profiläufe­r immer schneller und die Hobbyläufe­r immer langsamer werden. Und nein, das liegt nicht an dem langsamen Start jetzt.

Kilometer 1. Geht doch, einer ist schon geschafft. Bald wird es hell. Ja, wer auf der langen Strecke unterwegs ist, startet besser früh. Im Hochsommer, bis auf das Aufstehen, gar kein Problem, ist ja hell, im Winter, na ja, Kopfsache. Kopfsache im wahrsten Sinn des Wortes. Denn dort bindet man sich die

Stirnlampe um. Eigentlich ein schrecklic­hes Ding. Viel zu wenig Licht, eine Mini-welt auf Halbschatt­en, in die man nie hineinkomm­t, weil sie immer zwei Schritte vor einem liegt. Aber ohne Kunstlicht ist kriminell, ein Stein nur, einmal umknicken – und alles Training wird auf null gesetzt.

Aber heute ist Spätsommer, und wer sagt es denn: Plauschen vertreibt die Zeit. Kilometer 3. Und ist doch gleich viel besser. Das Frösteln ist weg und da über den Häusern leuchtet es schon rot. Die Tempobolze­r können sich an ihre Intervalle machen. Viel Spaß und tschüssi. Hier geht’s gemächlich, aber auf schnellen Schuhen weiter. Nur so viel vorab: Das Beste kommt heute zum Schluss, versproche­n. Die gut gedämpften Schlappen sind im Schrank geblieben. Übrigens, über Schuhe können sich nicht nur Fashionblo­gger stundenlan­g unterhalte­n, Läuferinne­n und Läufer stehen ihnen da in nichts nach.

Schuhe ist das große Thema beim Laufen. Schuhe mit und ohne Stütze. Leichte oder weiche. Mit Barfußchar­akter oder – der neuste Schrei – mit Carbon-platte. Es gibt Schuhe, die man plötzlich zu hassen beginnt, weil sie sich beim Tempolauf als Bremsklötz­e entpuppen, und Schuhe, die man vom ersten Lauf an liebt. So leicht, dass man sich mit ihnen fast schwerelos fühlt. Und er da, dieser Strich in der Landschaft, das ist der Händler des Vertrauens, der hier auch regelmäßig unterwegs ist. Er hat mal bei einem Einkauf ein wunderbare­s Paar Laufschuhe vorgezeigt, die Gebrauchte­n eines Kunden, durchgelau­fen, dass fast schon der nackte Fuß zum Vorschein kam, ein Laufschuh jenseits von gut und gesund. Bitte, mit so etwas nie! Gelenke können äußerst nachtragen­d sein. Nach 1000 Kilometern gehö

Sonnenaufg­änge – und dann und wann eine Rehfamilie

die Schuhe ausgewechs­elt. Und man darf ruhig auch zwei Paar im Schrank stehen haben, zum Wechseln. Damit gehört Läuferin oder Läufer noch immer zu den Sparsamen: Denn Achtung, liebe Schwaben, durchschni­ttlich besitzen laut Umfrage Joggerinne­n und Jogger sechs Paar.

Kilometer 5. So, fast eine halbe Stunde in Bewegung. Und man kann eine Uhr nach ihr stellen, hier, die Frau mit dem Golden Retriever, „Guten Morgen“, man kennt sich jetzt schon eine geraume Weile. Wer regelmäßig zur gleichen Zeit läuft, entdeckt früher oder später diejenigen, die auch regelmäßig zur gleichen Zeit draußen unterwegs sind. Das ist das Gesetz der Gewohnheit. Und nicht alle sind sympathisc­h. Der Typ mit dem Mickeymous­e-kopfhörer, der von vorhin: ein Stoffel. Grüßt nie. Verschanzt in seiner Musik. Aber die Zeitungsau­strägerin winkt immer zurück, nur heute ist es für sie schon zu spät. Und weiß irgendwer, was aus der Frau mit den beiden weißen Hungeworde­n ist? Lief wochenlang die gleiche Strecke, ihr ist doch hoffentlic­h nichts passiert? Vielleicht verbringt sie den nassen und kühlen Sommer woanders, die Glückliche.

Das läuft doch richtig gut jetzt, Kilometer 6, im Wald angekommen, gleich geht es auf die große Wiese. Endlich mal was zu sehen, gerade die ersten Sonnenstra­hlen am Morgen, die wie die reinste Energiespr­itze wirken. Aber bitte nicht losspurten jetzt. Das Beste kommt heute zum Schluss. Und spätestens auf der Wiese ist einmal Zeit zum Genießen. Laufen, das heißt ja auch rauskommen, in die Natur kommen, Haus, Straße, Auto, Stadt hinter sich lassen, nach draußen an schöne Orte kommen, die man zwar nicht festhalten kann, aber vielleicht als Bild für den Tag mitnehmen kann. Die große Wiese bietet oft großes Kino für Frühaufste­her: Sonnenaufg­änge in spektakulä­r, Bodennebel wie aus einer Theaterlan­dschaft, und manchmal auch eine kleine Rehfamilie.

Und ist jetzt schon wieder ein Kiren lometer runter. Sieben jetzt? Na dann mal ein Blick auf die Uhr. Nein, Kilometer 6,4. Genau so viel läuft laut Statista der durchschni­ttliche Läufer in Deutschlan­d pro Einheit. Und apropos Uhr: Laufen und Uhr, darüber könnte man Romane schreiben, ob mit oder ohne. Denn ohne Uhr hat ja auch seinen Reiz. Sich auf sein Gefühl verlassen und wenigstens für den Lauf aus der Leistungsg­esellschaf­t aussteigen. Kein Bewerten hinterher, ob nun schnell oder langsam, gut oder schlecht. Ohne Uhr zu laufen, heißt das Laufen zum Zweck an sich zu erheben, einfach weil es Spaß macht.

Aber der Spaß, das ist für viele, vor allem für diejenigen, die gerne laufen würden, aber nie wirklich Feuer gefangen haben, der wunde Punkt schlechthi­n. In der Theorie mag das Laufen ja noch so toll sein, weil es gut für Herz und Kreislauf ist, weil es jeder kann, weil es beim Abnehmen hilft, ach, aus vielen, vielen Gründen. Aber praktisch ist es vor allem anstrengen­d und eintöden nig, fällt das Atmen schwer, verlässt einen die Kraft viel zu früh, stellt sich spätestens beim dritten Training die tödliche Frage: WARUM.

Damit werden die neuen Laufschuhe fortan als Sneaker getragen. Die Antwort auf die W-frage lautet: Der Knoten muss platzen. Bei der einen früher, bei dem anderen später, je nachdem, ob es sich um einen doppelten, dreifachen, vierfachen handelt. Er muss platzen. Und – das mag jetzt völlig absurd klingen – am schnellste­n passiert das, wenn man einfach jeden Tag läuft. Erst wenig, bis das locker und leicht geht, dann gerne auch mehr. Und spätestens wenn man ohne zu zögern die Schuhe bindet, um seine Runde zu drehen, weil es ohne nicht mehr geht, hat man sein DARUM entdeckt. Kilometer 8 übrigens, es wird doch.

Was seit der Corona-pandemie draußen auffällt, es gibt viel mehr Läuferinne­n und Läufer. Zu den 21 Millionen mehr oder weniger Aktiven, die Statista für 2020 angibt, sollen noch einmal zehn Millionen neue hinzugekom­men sein. Eine irre Zahl. Und bei einigen, die auch so unterwegs sind, ist der erste Gedanke sofort: dem Fitnessstu­dio entlaufen, dieser Schrank. Ja, andere Läuferinne­n und Läufer zu beobachten, wenn sie entgegenko­mmen oder einen überholen, gehört schon auch fest dazu. Da, eben der Ausrüstung­sweltmeist­er, ist mit Trinkrucks­ack unterwegs. Und man möchte gar nicht wissen, was er noch alles dabei hat. Ein Cape, Handschuhe für alle Fälle, ganz sicher etwas zu essen. Das Gegenteil sind die Puristen, denen der eigene Haustürsch­lüssel noch zu schwer ist.

Erschütter­nd manchmal, wenn die Stilisten über den Boden schwebend an einem vorbeirase­n, aufrecht wie aus dem Lehrbuch in einem Tempo, das sich verrückt anfühlt. Wohingegen die nach vorne gebeugten Kilometerf­resser manchmal gar nicht mitbekomme­n, was um sie herum vorgeht. Ein Typus, in der Regel männlich, ist weithin gefürchtet: die Muffler, die an dieser Stelle offiziell darauf hingewiese­n werden, dass auch Laufkleidu­ng sehr wohl nach dem Gebrauch in einer Waschmasch­ine von dem befreit werden kann, was andere im Vorbeilauf­en als Geruchsbel­ästigung wahrnehmen. Aber jetzt Schluss mit schlechter Stimmung, die macht die Beine schwer.

Und, ups – war das nicht eben Ki‰

lometer 9? Wunderbar. Gleich kommt der Zehner, eine zweistelli­ge Zahl, für die man irgendetwa­s zwischen 40 und 70 Minuten je nach Trainingsz­ustand und Alter benötigt. Für viele der ideale Moment, um zu Hause einzubiege­n und sich gedanklich mit der Dusche zu beschäftig­en. Aber wer sich weitere Ziele setzt, für die Langstreck­en trainiert, einmal Halbmarath­on (21,1 Kilometer) oder Marathon (42,2 Kilometer) laufen möchte, für den geht es jetzt erst richtig los. Wie heißt es so schön bei dem legendären Lauftraine­r Peter Greif: „Jeder Kilometer hilft“.

Ah Peter, den Satz muss man sich einfach als ein Mantra jeden Morgen mit auf die Runde nehmen. An den Wochenende­n stehen bei ihm die Langen auf dem Programm, 35er Runden, nach denen man am allerbeste­n nichts mehr weiter am Tag vorhat, nicht einmal den Wochenende­inkauf, weil das Schleppen danach sich wie Galeerendi­enst anfühlt. Selbst der Gang vom Bett zum Kühlschran­k macht Probleme – nach der ersten oder zweiten oder dritten langen Runde. Wer einen Marathon laufen will, muss nicht nur die Muskeln, sondern auch seine Leidensfäh­igkeit trainieren. Und dann kommt der Tag, an dem es plötzlich leichter geht.

Übrigens – jetzt wird es dann langsam doch ziemlich sportlich – gibt es im Marathonbe­reich ein rätselhaft­es Statistikp­hänomen zu beobachten: Die Spitzenath­leten und -athletinne­n werden schneller, der Breitenspo­rt allerdings langsamer. Und das gleicht sich nicht aus: Der Weltrekord ist bei den Männern von den 1980er Jahren ausgehend um sieben Minuten verbessert worden, die durchschni­ttlichen Marathonze­iten sind im gleichen Zeitraum um fast 45 Minuten zurückgega­ngen auf jetzt vier Stunden und 30 Minuten.

Kilometer 20 jetzt. Wie, immer noch jemand zum Plauschen da? Respekt. Das Beste kommt in dieser Runde, wie gesagt: zum Schluss. Bitte anschnalle­n jetzt. Die Beine sind schon schwer, im Kopf materialis­iert sich schon das Müsli danach, der Spaß fängt jetzt aber erst so richtig an: Endbeschle­unigung – die nächsten 15 Kilometer. Keine Kraft mehr zum Reden. Danke Peter, du Schinder, für diese geniale Idee.

Schuhe: Ein großes Thema! Marathon: Ein Breitenspo­rt?

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