Augsburger Allgemeine (Ausgabe Stadt)

Ist Herr Lehmann am Ende?

Eigentlich ein Grund zur Freude: Vor 20 Jahren erschien Sven Regeners phänomenal­es Debüt „Herr Lehmann“– jetzt kommt mit „Glittersch­nitter“der sechste Roman der Bestseller-serie. Der aber zeigt: So kann es nicht weitergehe­n

- VON WOLFGANG SCHÜTZ

So fing es an:

Der Nachthimme­l, der ganz frei von Wolken war, wies in der Ferne, über Ostberlin, schon einen hellen Schimmer auf, als Frank Lehmann, den sie neuerdings nur noch Herr Lehmann nannten, weil sich herumgespr­ochen hatte, dass er bald dreißig Jahre alt werden würde, quer über den Lausitzer Platz nach Hause ging. Er war müde und abgestumpf­t, er kam von der Arbeit im Einfall, einer Kneipe in der Wiener Straße, und es war spät geworden. Das war kein guter Abend, dachte Herr Lehmann, als er von der westlichen Seite her den Lausitzer Platz betrat, mit Erwin zu arbeiten machte keinen Spaß, dachte er, Erwin ist ein Idiot, alle Kneipenbes­itzer sind Idioten, dachte Herr Lehmann, als er an der großen, den ganzen Platz beherrsche­nden Kirche vorbeikam.

Und ist es jetzt bald zu Ende? Das neue Buch nämlich schließt damit, dass Frank Lehmann diese Arbeit im Einfall findet und beendet damit zumindest mal so etwas wie die nachgeholt­e Vorgeschic­hte. Was nun also, Herr Regener?

Aber der Reihe nach. Millionen jedenfalls wissen längst, dass jener gedankenze­rfranste Heimweg oben durch Kreuzberg nicht nur zu einer irrwitzige­n Begegnung mit einem „wurstförmi­gen Hund“führen und dass irgendwann, am Rande einer weiteren Nacht, dann irgendwie auch plötzlich die Mauer fallen wird – sondern dass damit ein regelerech­ter Kult seinen Anfang nahm. Wenn nun jedenfalls, 20 Jahre nach diesem dann auch höchst prominent fürs Kino verfilmten Debüt, wieder ein Roman aus dem „Herr Lehmann“-kosmos erscheint, ist es der bereits sechste in einer Serie mit Bestseller-garantie.

Ihren Autor Sven Regener, der wie sein Titelheld aus Bremen stammt und dann nach Berlin zog, kennen längst viel mehr Menschen durch dieses fortgesetz­te Millieukab­arett mit Alltagstyp­en in unvergleic­hlicher Faselkunst als in seiner künstleris­chen Heimat als Rockpoet an der Spitze der Band Element of Crime – obwohl beides in Ton manches gemein hat. Aber merkwürdig­erweise ist „Herr Lehmann“geworden, was Sven Regener nie war: Pop. Wie konnte das passieren?

Ein indirekte Antwort darauf gibt „Glittersch­nitter“. So heißt der neueste Roman nun, der – nachdem Regener auch mal mit „Magical Mystery“aus der Frank Lehmanns Vorgeschic­hte erzählende­n Chronologi­e ausgescher­t war und dessen Freund Karl zur Hauptperso­n gemacht hatte – unmittelba­r an den Vorgänger „Wiener Straße“anschließt.

Es treten also wieder auf: Die quasi im Exil lebenden Wiener Kunst-schrullen der „Arschart“um „Kacki“und „P.immel“. Die formieren nun nicht nur als die titelgeben­de Band namens Glittersch­nitter, sondern führen zwischendu­rch auch pathetisch­e Sprachspie­le vor, auf deren Basis sie die 1. Ottakringe­r Shakespear­e-kampfsport­gesellscha­ft gegründet haben. Die Truppe darf wild wienern, hier etwa in einem zentralen Disput über die richtige Art Kaffee-konsums, weil gerade der Milchkaffe­e mit aufgeschäu­mter Milch in Mode kommt: „Med eanam Obers, des pack i net!“Genauso wie etwa Franks Nachbar beim Aufbau einer Ikea-modellwohn­ung wild berlinert: „…weeß ick oné! Ha’ck mir irjndwo uffjeschri­em.“Dieser Nachbau wiederum ist ein Kunstproje­kt von Heinzrüdig­er, genannt „H.R.“, Mitbewohne­r von Frank, den diesmal alle Frankie nennen, was ihm aber auch nicht recht ist.

Und Herr Lehmann selbst steckt – während sein ewig großer Bruder Freddie als Psychophar­maka-tester in einem Hotel verbunkert ist – in Tumulten, die sich im Einfall entwickeln, weil der württember­gisch schwäbelnd­e Chef Erwin („Kerle, Kerle!“) plötzlich ein nachmittäg­liches Rauchverbo­t verhängt, dessen Schwester ihre Tochter Chrissie, in die Frank vielleicht ein bisschen verliebt ist, einfach nicht loslassen will, und weil dann auch noch die Haus-besetzer-punks kommen, die Zoff mit den Arschart-leuten haben und ihnen darum ein Kackwurst in den Hof serviert haben, die nun aber überfriert und taut und überfriert und taut – und immer stinkt…

Ziemlich irre? Arg zotig? Hauptsache Quatsch? Kann schon sein. Aber ist es nicht immer so bei Regener, dass es äußerlich beschriebe­n so wirkt, aber in diesem Erzählton und vor allem bei seinem großen Talent, Dialoge und Gedankengä­nge in ihrem alltäglich­en Entgleisen zu schildern, doch zündet? Und ja, tatsächlic­h ist die Kircherdic­hte auch im sechsten Buch wieder zuverlässi­g hoch. Aber trotzdem zeigt sich noch deutlicher als schon in „Wiener Straße“, dass sich etwas in der Serie nach und nach verändert hat.

„Herr Lehmann“hat noch das West-berliner Wende-milieu miterzählt, „Neue Vahr Süd“die Bundeswehr auf eigene Art bespiegelt – das war Pop. Nun geht Regener aber in jenem Mikrokosmo­s auf, in den sein Frank seit dem Umzug aus Bremen nach Berlin mit „Der kleine Bruder“eingetauch­t ist. Und umso beschränkt­er der Horizont des Romans selbst, desto krasser, scheint es, müssen die Typen und ihre Dämlichkei­ten werden, um noch genug äußere Bewegung für das zündende Gefasel zu erzeugen. Das ist bloß noch Fun-punk. Und das knarzt inzwischen in den Quatschkur­ven schon mal, nervt mitunter – aber geht bei „Glittersch­nitter“insgesamt gerade so noch auf. Siehe Kicherquot­e. Aber einfach so weitermach­en als wäre das eine Comicund keine Roman-serie?

Kann Sven Regener eigentlich eh nicht. Denn er stößt, siehe Anfang, nun ohnehin mit seiner Vorerzählu­ng fast schon an den Beginn zu „Herr Lehmann“. Man kann das traurig finden, weil es doch immer Spaß macht, wenn der Autor offenkundi­g mit seinen Figuren Spaß hat. Aber viel mehr ist es trotzdem ein Glück. Denn das große Erzähltale­nt Sven Regener könnte doch nur neu aufleben, wenn es wieder einen neuen Zugriff und einen breiteren Horizont findet – siehe „Magical Mytery“! Und selbst, wenn das das Ende der „Herr Lehmann“-reihe bedeuten würde, wäre das nicht schlimm. Dieser Autor könnte noch so viel mehr und vielleicht sogar besser anderes, bevor er hier, wie seine Romane, auch selbst stagniert. Dann wäre das das Ende:

„Der Zug kommt, Kacki“„Die Oma wird sich freuen!“„Ganz gewiss, Kacki!“

» Sven Regener: Glittersch­nitter Galiani, 480 S., 24 ¤ (ab 9. September) (als ungekürzte­s Hörbuch, auch auf CD, gelesen vom Autor, bei tacheles, 19,49 ¤)

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Foto: Charlotte Goltermann Musik und Autor Sven Regener ist heuer 60 geworden.

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