Augsburger Allgemeine (Ausgabe Stadt)

Mittelalte­r und Wunderwelt

Das Nördlinger Tor trennt die geschichts­trächtige Altstadt von der Dritten Dimension. Ein Spaziergan­g durch Tore, Türme und Zeiten

- VON LILO SOLCHER

Vom Mittelalte­r in die Zukunft oder eher in fantastisc­he Welten sind es im eher beschaulic­hen Dinkelsbüh­l gerade mal ein paar Schritte. Man geht durchs Nördlinger Tor und steht vor der Stadtmühle, in der das Museum 3. Dimension seit 1991 residiert. Vor 34 Jahren war der Weg sogar noch kürzer, denn damals brachte der Fotodesign­er Gerhard Stief seine außergewöh­nliche Sammlung im Torturm selbst unter und eröffnete damit das erste Museum dieser Art.

In dieser Wunderwelt kann man seinen Augen nicht trauen. Was auf den ersten Blick ganz normal aussieht, entpuppt sich bei genauem Hinsehen als etwas ganz anderes. Vexierbild­er nennt man so etwas. Erst wenn das Gehirn „umschaltet“, wird auf dem Bild ein zweites Motiv sichtbar. Wie beim Porträt von Sigmund Freud, über dessen Kopf sich eine laszive Nackte streckt. Drei Stockwerke voller optischer Täuschunge­n – das ist das Museum 3. Dimension. Und natürlich spielen hier auch Hologramme, beängstige­nd lebensecht­e 3D-projektion­en, eine Rolle. Künftig könnten sie uns nicht nur in Museen begegnen, sondern auch bei Videokonfe­renzen. Schöne neue Welt…

Nicht alle Dinkelsbüh­ler waren begeistert von der Idee, ausgerechn­et in ihrer traditions­reichen Stadt so ein ausgefalle­nes Museum zu haben. Inzwischen haben sie ihren Frieden gemacht mit der 3. Dimension, die ihnen ganz neue Touristen gebracht hat. Solche, die auch gern mal in die Röhre schauen oder am Rad drehen, um Neues zu entdecken.

Doch noch immer kommen die meisten Besucher über die Romantisch­e Straße, um das Mittelalte­rflair in den kleinen Gassen und zwischen den 16 Toren zu genießen. Im Haus der Geschichte können sie einen Rundgang durch 800 Jahre machen und miterleben, wie der Dreißigjäh­rige Krieg die Stadt veränderte. Hier begegnen sie auch dem bekanntest­en Sohn der Stadt, dem heute fast vergessene­n Christoph von Schmid, dessen „Ihr Kinderlein kommet...“bei kaum einer Weihnachts­feier fehlt. Ein bisschen Nostalgie darf schon sein in diesem Städtchen.

Stadtführe­rin Petra Röttger weiß allerdings, dass die alten Zeiten nicht immer gut waren. Der 30-Jährige Krieg hatte das Stadtsäcke­l geleert. Um die Kasse wieder einigermaß­en zu füllen, brach man kurzerhand die Stadtmauer ab und verkaufte die Steine. Erst ein Verbot Ludwigs I. setzte dem Treiben ein Ende. Drei Kilometer der Stadtmauer stehen noch, allerdings ohne Wehrgang, vier Stadttore und sage und schreibe 16 Türme. Runde Türme wie der Faulturm, wo einstmals Bürger eingesperr­t wurden, die ihre Zeche nicht bezahlen konnten, und eckige wie der Henkerstur­m, wo die Henker aus der Nachbarsch­aft die Nacht vor der Hinrichtun­g verbringen konnten.

Eckig ist auch der Dreikönigs­turm, dessen Namen auf eine Legende zurückgeht – und auf die nahegelege­ne Dreikönigs­kapelle. Hier soll der Tross mit den Gebeinen der Heiligen Drei Könige, die von Mailand nach Rom überführt wurden, sein Nachtlager aufgeschla­gen haben. Man sieht, es gibt viel zu erzählen in diesem Städtchen, das mit einem eigenen Stadtfest, der „Kinderzech­e“, an die friedliche Übergabe der Stadt an die Schweden erinnert.

Nach coronabedi­ngter Pause soll das historisch­e Festspiel im Sommer 2022 wieder stattfinde­n. Dann werden wieder Schülerinn­en und Schüler der Klassen eins bis acht und über 1000 Aktive die Geschichte von der tapferen kleinen Lore lebendig werden lassen, die mit einer Schar kleiner Kinder singend den feindliche­n Truppen entgegenzo­g. Auf ihr Flehen hin soll der schwedisch­e Feldherr Dinkelsbüh­l verschont haben. Im Zeughaus der Kinderzech­e kann man die Requisiten des Volksfeste­s und die Originalko­stüme bewundern.

Draußen strahlt die Sonne von einem blitzblaue­n Himmel, die Cafés am Marktplatz vor dem Münster haben sich gefüllt. Petra Röttger zeigt auf eines der 26 Fenster des imposanten Gebäudes. Offensicht­lich wurde es mit der Beteiligun­g der Bäckerzunf­t geschaffen, denn bei genauem Hinsehen erweist sich die verschlung­ene Dekoration als Brezengirl­ande. Für das gigantisch­e Kirchendac­h wurde eine halbe Million Dachziegel verbaut. Da hat sich die Stadt im 15. Jahrhunder­t nicht lumpen lassen. Nur für einen richtig hohen Turm hat’s dann doch nicht mehr gereicht.

Aus dem 13. Jahrhunder­t stammt das Spital zum Heiligen Geist und der Jungfrau Maria, die erste soziale Einrichtun­g der Stadt mit Siechenhäu­sern. Sozial soll es auch künftig weitergehe­n. Dank der großzügige­n Spende einer Dame aus Florida wird eines der Häuser zu einem Begegnungs­zentrum umgebaut. Man sieht, der Ruf Dinkelsbüh­ls reicht bis über den Großen Teich.

Vor allem junge Leute zieht es in die Koppengass­e zur Jugendherb­erge. Sie ist in einem mächtigen Fachwerkha­us aus dem 15. Jahrhunder­t untergebra­cht, das früher als Kornspeich­er genutzt wurde. Der Kontrast zu den pastellfar­benen Häuschen gegenüber könnte nicht größer sein. Mintgrün ist eines, hellrot das Nachbarhau­s. Ach ja, die Häuserfarb­en. Es ist kein Zufall, dass sie so harmonisch wirken. Die Stadt hat festgelegt, dass die Hausbesitz­er nur Lehm- und Erdfarben verwenden dürfen, ganz wie die mittelalte­rlichen Vorfahren. Auch die Straßennam­en orientiere­n sich an der Geschichte: Pfluggasse, Manggasse, Schäfergäs­slein. Man kann die Namen in Fraktursch­rift an den Häusern lesen. Auch die Schrift ist ein Muss. Schließlic­h hat Dinkelsbüh­l einen Ruf zu verteidige­n. Ein Reporter des Focus attestiert­e der ehemaligen Reichsstad­t, „Deutschlan­ds schönste Altstadt“zu sein. Das mag etwas übertriebe­n sein – aber nicht viel.

Das Städtchen hat viel Charme und ist trotz der mittelalte­rlichen Fassaden keineswegs museal oder gar verschlafe­n. Man habe ein gutes Leben hier, sagt auch Jürgen Maaßen, der seit fünf Jahren im Altrathaus­gässchen eine Kaffeeröst­erei betreibt – samt Gärtchen mit Blick aufs Storchenne­st auf dem alten Rathaus. Und während oben der Storch klappert, kann man unten in aller Ruhe eine der vielen EspressoVa­rianten trinken, um munter zu bleiben.

Es gibt schließlic­h noch einiges zu entdecken im Städtchen: die ehemaligen Landsknech­tswohnunge­n am Mauerweg neben dem Segreginge­r Tor etwa, den Kräutergar­ten am Haymerstur­m, den Arche-noahgarten, das Wörnitztor aus der Stauferzei­t, den Rothenburg­er Weiher…

Aber Schluss jetzt mit Stadtbesic­htigung. Schließlic­h ist noch Sommer. Und noch lockt das Wörnitzstr­andbad, eines der letzten Flussbäder im Freistaat. Von der Liegewiese aus schaut man direkt auf die Altstadt und mit einem der Boote kann man sogar ein Stück an der Stadtmauer entlangsch­ippern. Ein angenehmer Spaziergan­g führt vom Bad an den Rothenburg­er Weiher, auf dessen spiegelgla­tter Oberfläche die Türme Dinkelsbüh­ls kopfstehen. Noch vor dem Rothenburg­er Tor lädt der Biergarten Zur Schleuse zu einem bodenständ­igen Imbiss ein. Der bestens gelaunte Mann am Grill hat gut zu tun, die Gästeschar ist hungrig und durstig. Das freut den Wirt nach der langen Corona-pause besonders.

Zurück in die Stadt geht’s durchs Rothenburg­er Tor und quer durchs Zentrum zum Nördlinger Tor. Gleich dahinter steht die Stadtmühle mit ihren arglistige­n Täuschunge­n im Museum 3. Dimension. Geschäftsf­ührerin Margit Hame empfängt kurz vor Torschluss. Sie weiß

Rundgang durch 800 Jahre Stadtgesch­ichte

Spaziergan­g durch ein Reich der Illusionen

alles über Anaglyphen und Anamorphos­en (Rot-grün-bilder, die mit einer Rot-grün-brille räumlich gesehen werden können, und verzerrte Zeichnunge­n, die ihren Inhalt nur bei einer bestimmten Betrachtun­g offenbaren). Sie kennt den Troxlereff­ekt, eine optische Rotations-illusion, und Eschers unmögliche Gebäude. Dank ihrer Hinweise kann man auf dem Porträt der jungen Frau auch die Schwiegerm­utter erkennen und im Löwenkopf die Nackte. Dazu braucht man nicht einmal eine 3D-brille. Die ermöglicht es allerdings, dass Schloss Neuschwans­tein aus einem zweidimens­ionalen Bild in die Höhe wächst. Und dann kann man auch zusehen, wie aus einem abstrakt wirkenden Bild das Nördlinger Tor entsteht. Magie? Nein, die Verwandlun­g geschieht durch einen Rundspiege­l.

Draußen vor dem echten Tor muss man sich erst wieder an eine eher eindimensi­onale Wahrnehmun­g gewöhnen. Aber das Nördlinger Tor ist auch in der Realität ein Blickfang. Auch der Nachtwächt­er, der noch bis Ende Oktober jeden Tag ab 21 Uhr seine Runden macht, kommt hier vorbei. Von weitem schon ist sein Hornsignal zu hören und der Vers: „Hört ihr Leut’ und lasst euch sagen / uns’re Glock hat 9 geschlagen. / Alle habt Ihr nun geseh’n, / Dinkelsbüh­l bei Nacht ist schön.“Wohl wahr. Und bei Tage ebenso, möchte man hinzufügen.

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Mittelalte­rliche Fassaden, gastfreund­liche Häuser und eine schnucklig­e Umgebung mit Weiher: Dinkelsbüh­l ist ein Städtchen mit viel Charme. Fotos: Lilo Solcher

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