Augsburger Allgemeine (Ausgabe Stadt)

Raus ins Leben, Olaf Scholz!

Ukraine, Impfpflich­t, Energiewen­de: Ein Kanzler darf nicht darauf warten, dass Probleme sich von selbst lösen. Er muss führen – auch wenn es ihm schwerfäll­t.

- VON RUDI WAIS rwa@augsburger‰allgemeine.de

Wenige deutsche Kanzler sind mit so viel Regierungs­erfahrung in ihr Amt gestartet wie Olaf Scholz. Er war Arbeits- und Finanzmini­ster in zwei Großen Koalitione­n, Innensenat­or und Bürgermeis­ter in Hamburg und im Zweitberuf vier Jahre lang Angela Merkels Stellvertr­eter. Wer bei ihm Führung bestelle, hat er einmal gesagt, der bekomme sie auch. Tatsächlic­h jedoch ist Olaf Scholz nach zwei Monaten an der Spitze der Bundesregi­erung der lebende Gegenbewei­s für seine eigene These.

Die Ukraine-krise, in der er eine klare Haltung und ein klares Wort scheut, ist nur der vorläufige Höhepunkt einer schon ins Groteske gehenden Unentschlo­ssenheit. Wie Hohn muss den Menschen in der Ukraine das Verspreche­n in den Ohren klingen, 5000 Helme und ein Feldlazare­tt zu liefern – als ließe sich so die russischer Armee stoppen. Mit dieser Politik des Lieberdie-anderen-machen-lassens hat Scholz Deutschlan­d nicht nur in EU und Nato isoliert. Auch sein eigenes Credo, nach dem Außenpolit­ik künftig vor allem im Kanzleramt gemacht wird, führt er so ad absurdum. Am Ende spielt das nur einem in die Karten: Wladimir Putin.

So gut Scholz im Wahlkampf mit seiner defensiven Strategie gefahren ist, weil er ja nur weniger Fehler machen musste als Armin Laschet und Annalena Baerbock, so irritieren­d ist seine Zurückhalt­ung nun, da er Kanzler ist. Mitten in der Pandemie dauerte es Wochen, bis er sich für einen Gesundheit­sminister entschiede­n hatte, sein Beharren auf einer allgemeine­n Impfpflich­t hat im Lichte der veränderte­n Infektions­und Diskussion­slage fast trotzige Züge angenommen – und auch der gerade noch rechtzeiti­g geschlicht­ete Streit um die Förderung des energieeff­izienten Bauens schien ihn eine Woche lang nicht groß zu kümmern. Oder hielt Scholz sich gar bewusst heraus, damit der Zorn der Bauherren den Wirtschaft­s

und den Finanzmini­ster traf und nicht ihn?

Unter anderen Umständen, in einer anderen Zeit würde man auch dem neuen Regierungs­chef Scholz die übliche Schonfrist von 100 Tagen zugestehen. Die Zeiten aber sind nicht so, eine Pandemie, eine große geopolitis­che Krise und eine Reihe konjunktur­eller Unwägbarke­iten wie die anhaltend hohe Inflation

kann ein Kanzler nicht einfach aussitzen. In unsicheren Zeiten erwarten die Menschen gerade von ihm Orientieru­ng. Scholz allerdings, so scheint es, hat sich in seinem Amt regelrecht eingemauer­t.

Eine müde erste Regierungs­erklärung. Eine ähnlich ermüdende Neujahrsan­sprache, die üblichen Pflichtbes­uche in Frankreich, Polen oder Italien zum Antritt, jetzt ein eher lustloses Interview im ZDF – und das war es dann auch.

Wie er das Land aus der Pandemie führen will, wie die Energiewen­de gelingen soll, ohne Wirtschaft und Verbrauche­r zu überforder­n, wie Deutschlan­d dem zunehmende­n Migrations­druck begegnet: alles unklar, weil auch der Koalitions­vertrag hier vieles offenlässt. Alleine beim Mindestloh­n, einem Herzensthe­ma der SPD, hat die neue Regierung schnell gehandelt.

Natürlich sind hier wie dort vor allem seine Minister in der Pflicht, als Kanzler aber ist Scholz für das große gemeinsame Ganze verantwort­lich, er hat die Richtlinie­nkompetenz – und das impliziert, dass er diese Richtlinie­n auch formuliert, nach innen wie nach außen. Niemand erwartet, dass er dazu die Basta-rhetorik eines Gerhard Schröder kopiert oder den schneidige­n Auftritt eines Helmut Schmidt, die Dinge aber so lange wie möglich laufen zu lassen wie Angela Merkel es gerne tat, widerspric­ht auch dem Selbstvers­tändnis der drei Ampelparte­ien, die ja eine Koalition des Fortschrit­ts sein wollen. Den aber verkörpert im Moment niemand weniger als Olaf Scholz.

In Krisen suchen die Menschen nach Orientieru­ng

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