Augsburger Allgemeine (Ausgabe Stadt)

Den falschen Verräter verraten?

Forscher wollen herausgefu­nden haben, dass ein Jude das Versteck der Familie Frank preisgegeb­en hat. Nun hagelt es Kritik. Für Historiker Andreas Wirsching ist die Debatte vergiftet.

- VON VICTORIA SCHMITZ

Hat etwa ein Jude Anne Frank verraten? Jemand, der aus den eigenen Reihen stammt? Die Frage polarisier­t. Die Tatsache, dass ein interdiszi­plinäres Team nach mehrjährig­er Forschung zu diesem Ergebnis gelangte und ein Buch darüber Mitte Januar publiziert­e, sorgte für große Aufmerksam­keit. Das Werk mit dem Titel „Der Verrat an Anne Frank“, das bisher auf Niederländ­isch und Englisch erschienen ist, schaffte es auf Bestseller­listen nach oben. Doch schnell tauchten Zweifel am provokante­n Inhalt auf.

Die These: Der jüdische Notar Arnold van den Bergh soll den Aufenthalt­sort Anne Franks, deren Tagebücher heutzutage als wichtige historisch­e Dokumente über die Zeit des Nationalso­zialismus gelten, verraten haben. Historiker kritisiert­en an dem Werk einerseits eine unsaubere Recherche, anderersei­ts, dass es sich hauptsächl­ich auf bloße Annahmen stütze. Was außerdem für Entsetzen sorgte: Das Werk greift den Vorwurf und den innerjüdis­chen Streitpunk­t einer angebliche­n jüdischen Kollaborat­ion mit den Nazisozial­isten auf. Laut Andreas Wirsching, Direktor des Instituts für Zeitgeschi­chte in München und Berlin und Historiker an der Ludwig-maximilian­s-universitä­t München, ist das eine „vergiftete Debatte“.

Zu Beginn der Woche erklärte der niederländ­ische Verlag Ambo Anthos, in dem die Publikatio­n erst vor knapp drei Wochen erschienen war, als Reaktion auf die Kritik vorerst keine Zweitaufla­ge des Buchs zu drucken. Doch wie gelangten die Forschende­n überhaupt zu der vermeintli­chen Erkenntnis, dass ausgerechn­et ein jüdischer Notar das jüdische Mädchen und seine Familie verraten haben soll?

Das ausschlagg­ebende Dokument für das Forscherte­am war die Kopie eines Briefs an Otto Frank, Anne Franks Vater. Dieser wurde nach Kriegsende entdeckt und enthielt den Namen van den Berghs. Van den Bergh selbst war Mitglied im jüdischen Rat, einer Organisati­on niederländ­ischer Juden. Diese Tatsache sollen ihn und seine Familie vorerst vor einer Deportatio­n bewahrt haben. Weil dieser Schutz aber ab 1944 wegfiel, soll er laut Forscherte­am Verstecke anderer Jüdinnen und Juden preisgegeb­en haben, um sich und seine Familie weiterhin zu schützen.

Unter diesen Verstecken soll auch das Amsterdame­r Hinterhaus mit der Adresse Prinsengra­cht 263 gewesen sein. Dort verbarg sich Anne Frank ab 1942 mit ihrer Familie vor den deutschen Besatzern. Infolge eines Verrats wurde die Familie 1944 entdeckt und deportiert. Die 15-jährige Anne Frank, ihre Schwester und ihre Mutter starben in Konzentrat­ionslagern. Nur der Familienva­ter, Otto Frank, überlebte. Er veröffentl­ichte die weltberühm­ten Tagebücher seiner Tochter.

Um die Brisanz dieses vermeintli­chen Verrats einzuordne­n, ist laut Historiker Andreas Wirsching unabdingba­r, den historisch­en Kontext rund um die Besetzung der Niederland­e durch die Nationalso­zialisten zu verstehen. Denn damit sei ein „brutaler Verfolgung­sdruck, den die Deutschen auf die niederländ­ischen Juden ausgeübt haben“, einhergega­ngen.

Laut Wirsching waren die Mitglieder des jüdischen Rats Ansprechpa­rtner für die deutschen Besatzungs­behörden. Ab 1943 hätten sie die jüdischen Räte vielerorts, darunter auch in Gettos, gezwungen, Jüdinnen und Juden aus den eigenen Kreisen zur Deportatio­n auszuwähle­n. „Das ist das widerliche Dilemma, in dem sich die jüdischen Räte befunden haben“, sagt der Historiker.

Nach 1945 habe dies zu einer Debatte geführt, ob es eine jüdische Kollaborat­ion mit den Nationalso­zialisten gegeben habe. „Es war eine unmittelba­re Folge der verbrecher­ischen Herrschaft der Nationalso­zialisten“, sagt er.

Zum einen die Tatsache, dass das Werk diese Debatte wieder aufleben ließ, zum anderen der Fakt, dass Anne Frank, ein Gesicht, das für den Holocaust steht, in den Mittelpunk­t dieser Debatte rückte, sorgten für das Aufsehen. Allerdings: Würde es sich nicht um Anne Frank handeln, sei die Tatsache, dass ein Jude einen anderen Juden verraten hat, vor dem zeithistor­ischen Kontext nicht besonders sensatione­ll, erklärt der Historiker.

Bei der Vorstellun­g der Publikatio­n im Januar erklärte das Forscherte­am selbst, dass es sich bei dem jüdischen Notar mit „85-prozentige­r Sicherheit“um den Verräter handele. Andreas Wirsching hält die Aussage für merkwürdig. Für ein Forschungs­ergebnis gebe es nur zwei Möglichkei­ten: „Entweder, ich kann etwas dokumentar­isch beweisen. Dann ist es, wenn man so will, 100 Prozent. Oder es ist der Versuch einer Plausibili­sierung.“Wirsching erklärt zum Recherchee­rgebnis: „Am Ende hatten sie vermutlich nicht die Plausibili­tät geschaffen, die sie gerne gehabt hätten.“Laut dem Historiker sei die Beweislage dafür zu dünn.

Soll das Buch nun vom Markt genommen werden? Wirsching, dem die Publikatio­n selbst noch nicht vorlag, sagt: „Man nimmt ein Buch eigentlich nur aus dem Handel, wenn es, überspitzt gesagt, skandalös falsch oder unseriös ist.“Nach Wirschings Eindruck sei der Vorwurf der Unseriösit­ät nicht aus der Luft gegriffen. Diese Meinung sei auch unter seinen Fachkolleg­en einhellig.

In Deutschlan­d ist das Werk bisher nicht veröffentl­icht. Das angekündig­te Erscheinun­gsdatum ist der 22. März. Auf die Frage, was die Ankündigun­g des niederländ­ischen Verlags für die deutsche Ausgabe bedeutet, verwies eine Sprecherin der Verlagsgru­ppe Harper Collins, die die deutsche Veröffentl­ichung betreut, auf ein Statement des Verlegers Jürgen Welte. Darin heißt es, dass nach zwei Fachlektor­aten des Manuskript­s nun eine interne Überprüfun­g erfolge. Und: „Der vergleichs­weise späte Erscheinun­gstermin der deutschspr­achigen Ausgabe zeigt, dass wir mit diesem sensiblen Thema äußerst verantwort­ungsvoll umgehen.“

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Foto: Peter Dejong, dpa Der Durchgang zu einem geheimen Anbau, in dem sich die Familie Frank in Amsterdam jahrelang vor den Nationalso­zialisten versteckte, ist in der Dauerausst­ellung im An‰ ne‰frank‰haus zu sehen.

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