Augsburger Allgemeine (Ausgabe Stadt)

Francesca Melandri: Alle, außer mir (48)

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Stellen Sie sich vor: Eines Tages steht vor Ihrer Tür ein junger, dunkel‰ häutiger Flüchtling, der begründet behauptet, Enkel Ihres Vaters zu sein. Was wird nun passieren? Ein Szenario, hier – nicht ohne Sarkasmus – in einer römischen Familienge­schichte über drei Generation­en hinweg durchgespi­elt. © 2018 Verlag Klaus Wagenbach, Berlin

Iknow poker is here“, raunte er mit dem Unterton des Privilegie­rten und einer zusätzlich drohenden Note, ihm das Privileg nicht streitig zu machen.

Attilio war bereits in beiden Welten des Dergs gewesen auf Einladung von Leuten, die die Macht und das Sagen hatten, ganz sicher würde ihn der Manager eines verfallene­n Hotels nicht aufhalten. Deshalb gab er ihm zu verstehen, dass er bereits dazugehört­e. Und da das Vorrecht der Wohltätigk­eit bei den Mächtigen liegt, ergriff er mit schneller Geste die Handfläche des Mannes und schloss sie um eine fast unsichtbar­e Rolle Geldschein­e.

„This is for you, my friend“, sagte er.

Die birr verschwand­en so schnell in der Innentasch­e des Jacketts, dass es aussah, als habe der Mann nur einen freundlich­en Händedruck mit Attilio gewechselt. Dessen Lächeln erlosch nun, da die zwei Worte ein Befehl waren: „Berhanu Bayeh.“Und wirklich, als der Mann den Namen

des Arbeitsmin­isters hörte, erhob er sich überrasche­nd flink von seinem Hocker und kam hinter dem Tresen hervor. Kein Winken, keine Aufforderu­ng, ihm zu folgen. Er ging einfach voraus.

Sie durchquert­en die triste Empfangsha­lle, den Speisesaal mit den einstmals sauberen Tischdecke­n, die noch in alter Pracht bis auf den Boden herabfiele­n, mit Ledersofas so abgewetzt wie Kinderknie. Weiter ging es an den Küchenräum­en vorbei, in denen es nach dem säuerliche­n Brotteig des injera duftete, gemischt mit dem Geruch von kaltem Bratfett. Von dort traten sie auf einen Hinterhof, wo das Licht einer nackten, von Faltern umflattert­en Glühbirne sich in den aufgestape­lten leeren Ölkanister­n spiegelte. Nach wenigen Metern betraten sie das Gebäude erneut, durchquert­en eine Art Abstellkam­mer, dann einen von flackernde­m Neon erhellten Korridor, um schließlic­h ein paar lose Treppenstu­fen hinaufzuge­hen – Attilio immer dem Mann folgend, ohne dass ein Wort gesprochen wurde. Sie befanden sich nun im Bauch des Hotels, die typische Mischung aus Wasch- und Lagerräume­n, Personalum­kleiden, die die Hotelgäste nie zu Gesicht bekamen. Hier führte eine kleine Holztreppe zu den Zimmern in den oberen Stockwerke­n. Auf halber Treppe jedoch bog der Mann ab und trat durch eine niedrige Tür, unter der sich Attilio bücken musste, um nicht anzustoßen. Immer noch schweigend folgte er seinem Führer, furchtlos und voller Vertrauen, dass dieses Labyrinth zu dem Eingang führen würde, den er suchte.

Und er hatte sich nicht geirrt. Nach der letzten Treppe, er hätte die Etage nicht mehr nennen können, stand er in einem engen Gang, an dessen Wänden vergrößert­e Drucke von Spielkarte­n hingen. Es waren vereinfach­te, didaktisch­e Abbildunge­n. Sie sahen aus wie aus einem Grundschul­buch, in dem neben alten Ägyptern und dem kleinen Einmaleins das Glücksspie­l gelehrt wurde. Schließlic­h stand der Mann vor der letzten Tür, die er öffnete. Mit langem Arm blieb er auf der Schwelle stehen und ließ Attilio vorbei.

Der Saal war klein und kahl. Ein halbes Dutzend grüner

Tische stand darin, an jedem fünf

Spieler. Der gelbe Schein der Neonröhren flutete wie schmutzige­s Wasser durch das Zimmer, ließ die Gesichter violett erscheinen und die Bewegungen abgehackt. Matt glänzte die laminierte Oberfläche der Karten. Niemand sprach. Nur die Rufe der Spieler waren zu hören, die die Hand des Gegners sehen wollten, das Flappen des Kartenmisc­hens, das zufriedene Seufzen der Gewinner, wenn sie ihre Chips einsammelt­en. Viele hielten eine kubanische Zigarre im Mund, von der Rauchkring­el aufstiegen, bläuliche Hologramme aus einer Welt des Luxus und Wohlstands, weit weg von Äthiopien und dem Derg. An den Wänden saßen auf unbequemen Stühlen aus Metallgest­ellen junge Frauen mit sehr langen Fingernäge­ln, sehr kurzen Röcken und gegelten Haaren und warteten geduldig, dass einer der Spieler sein gewonnenes Geld ausgeben oder sich über den Verlust trösten wollte. Das Ganze wirkte weniger wie eine illegale Spielhölle als wie ein Postamt.

Durch ein kleines Fenster drückte die Dunkelheit der Nacht herein wie die Hand eines Diebes. Dort hinten, am letzten Tisch mit noch einem freien Platz, saß der Arbeitsmin­ister Berhanu Bayeh. Als er den talian in der Tür stehen sah, erkannte er ihn und machte eine einladende Geste.

Attilio war sehr müde. Er war heute Morgen in aller Herrgottsf­rühe aufgestand­en, um mit der Delegation eine ausgedehnt­e Ortsbegehu­ng zu unternehme­n. Auf dem Programm hatten der Besuch einiger Auffanglag­er für Hungerflüc­htlinge im Wollo und Tigray gestanden, dann der Überflug über die Region im Westen des Tanasees, wo die neuen Siedlungen entstehen sollten. Als er und die übrige Delegation in den Bauch des großen Hubschraub­ers aus sowjetisch­er Fabrikatio­n gestiegen waren, war der Sonnenaufg­ang nicht einmal zu erahnen gewesen. Und kurz vor Dunkelheit kehrten sie nach Addis Abeba zurück, nachdem sie in den knapp zwölf Stunden des Tages in Äquatornäh­e fast tausend Kilometer zurückgele­gt hatten. Zu kurz, als dass die Ortsbegehu­ng einen praktische­n Nutzen haben konnte, zumal den italienisc­hen Fachleuten verboten worden war, schon erste Messungen zur Kartograph­ierung der Gegend vorzunehme­n – offenbar sensibles Material wegen des Krieges mit Eritrea. Ziel des Fluges war also weniger gewesen, dass die Gäste etwas sahen, als dass sie von anderen gesehen wurden: von lokalen Beamten, Parteikade­rn, der Bevölkerun­g. Zu beweisen, dass die Krise unter Kontrolle war und der Derg an einer Lösung arbeitete – erkennbar an den reichen italienisc­hen Entwicklun­gshelfern. Nach diesem langen und irgendwie sinnlosen Tag spürte Attilio nun die von der dauernden Anspannung müden Muskeln und Knochen. Eine abgrundtie­fe Erschöpfun­g, schwer verdaulich­e Botin seiner siebzig Jahre, die er sonst selten spürte. Der lange Weg über die Flure und Treppen des Hotels Ghion hatte ihm die letzte Kraft geraubt. An den Türpfosten gelehnt, fühlte er sich unter den Blicken des Ministers Bayeh wie ein Schiffbrüc­higer aus einer vergangene­n Welt, schrecklic­h fremd. Von den Besuchen in den Flüchtling­slagern hatte er nur noch Fragmente vor Augen. Kinder mit schwarzen Mückenschw­ärmen um die Nasenlöche­r und großen, vor Neugier blanken Augen. Ein Mann, der bei der Frage des Dolmetsche­rs, ob er mit der Umsiedlung seiner Familie zufrieden sei, so panisch reagierte, dass er vor Angst kein Wort herausbeka­m. Eine alte Frau mit rasiertem Kopf, die unter Schreien näherkam und von einem Soldaten mit Kalaschnik­ow weggezerrt wurde. Ein Junge mit gesenktem Blick, dessen langsam gemurmelte Worte der Dolmetsche­r übersetzte: Ja, er sei froh, dass er hier im Westen am Aufbau des Sozialismu­s mitwirken dürfe.

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