Augsburger Allgemeine (Ausgabe Stadt)
Wer Russlands Macht erben könnte
Fünf Männer werden als Nachfolger von Präsident Wladimir Putin gehandelt – oder zumindest als die „Zarenmacher“. Wer sie sind und wie ihre Chancen stehen für den Fall der Fälle.
Moskau Leukämie, Operation, Attentat: Die Spekulationen über Wladimir Putins Befinden reißen nicht ab. Zuletzt berichteten westliche Geheimdienste, der Präsident habe im März einen Anschlag überlebt. Außerdem leide Putin an Krebs im fortgeschrittenen Stadium. Er habe sich im April einer OP unterziehen müssen, die er aber gut überstanden habe. In anderen Quellen ist von Leukämie die Rede. Laut Recherchen russischer Journalisten wird Putin seit längerem von Krebsspezialisten begleitet. Der Kreml wies „all diese Fantasien“zurück. Tatsächlich gibt es wenig Belastbares zum Zustand des 69-Jährigen. Dennoch stellt sich angesichts des russischen Angriffskrieges in der Ukraine mit besonderer Dringlichkeit die Frage: „Was wäre, wenn…?“Hier eine Analyse des Nachfolger-tableaus.
1 Der Musterschüler
Dmitri Medwedew galt lange als geborener Putin-erbe. Schließlich war der 56-Jährige schon einmal Präsident. Im Mai 2008 zog der Einserjurist für vier Jahre in den Kreml ein. Damals sah die Verfassung nur zwei Amtszeiten in Folge vor und Putin wollte den rechtsstaatlichen Schein wahren. Für das Platzhaltermodell gab es keinen Besseren als Medwedew, den Professorensohn aus Putins Heimatstadt Sankt Petersburg. Die Präsidentschaft verlief problemlos. Doch als Putin den „Deal“später publik machte, brachen Massenproteste los, die das Regime niederknüppeln ließ. Unter all dem litt vor allem Medwedews Popularität. 2017 versetzte Kremlkritiker Alexei Nawalny dem Putin-musterschüler mit Enthüllun
über dessen Luxusleben einen Tiefschlag. Heute ist Medwedew Vize-chef des Sicherheitsrats. Seit der Ukraine-invasion fällt er vor allem mit Atomkriegsdrohungen auf – offenbar ein Versuch, sich bei den Hardlinern beliebt zu machen. Fazit: Ohne seinen Mentor Putin würden Medwedews Chancen auf eine zweite Präsidentschaft schwinden. Hält sich Putin aber bis zur Wahl 2024 an der Macht, könnte er seinen politischen Ziehsohn womöglich noch einmal als Nachfolger durchsetzen.
2 Der Schattenmann
Auch Igor Setschin ist ein enger Putin-vertrauter aus dessen Petersburger Zeit. Anders als der weltgewandte Medwedew sucht das Arbeiterkind Setschin aber selten das Licht der Öffentlichkeit. Das dürfte auch mit der Kgb-vergangenheit des 61-Jährigen zu tun haben. Wegen seiner finsteren Mimik trägt Setschin den Spitznamen „Darth Vader“. Die gleichnamige Figur diente in den „Star Wars“-filmen der dunklen Seite der Macht. Im richtigen Leben diente Setschin lange in Putins Präsidialapparat. 2003 spielte er eine Schlüsselrolle bei der Zerschlagung des Ölkonzerns Yukos und der Inhaftierung des kremlkritischen Oligarchen Michail Chodorkowski. Der späte Lohn: Setschin ist heute superreicher Chef des Ölgiganten Rosneft, der entscheidend zur Finanzierung des russischen Staates beiträgt. Ohne die Rosneft-milliarden wäre der Angriff auf die Ukraine unmöglich gewesen.
Fazit: Setschin ist ein klassischer Strippenzieher, ein Mann aus den Katakomben der Macht. Als Präsident ist er schwer vorstellbar – als Präsidentenmacher sehr wohl. 3 Der Kgbfalke
Seit Putin Präsident ist, begleiten ihn düstere Geschichten über seine Inthronisierung. Eine Version lautet: Der Geheimdienst FSB bombte ihn an die Macht. 1999, als Putin gerade vom FSB-CHEF zum Premier aufgestiegen war, erschütterte eine Anschlagsserie Moskau. Das gab Putin die Chance, sich zu profilieren. Er befahl den Angriff auf die „Terrorhochburg“Tschetschenien. Früh gab es erste Hinweise, dass der FSB die Attentate inszeniert haben könnte. Mutmaßlicher Drahtzieher: Nikolai Patruschew, der Nachfolger Putins an der Fsb-spitze. Die beiden fast gleichaltrigen Männer kannten sich aus ihrer KGB-ZEIT. Patruschew übernahm 2008 die Leitung des mächtigen Sicherheitsrats. Der 70-Jährige gilt als antiwestlicher Falke. Manche Beobachter halten ihn für den Einzigen im Regime, der Putin an Härte und Skrupellosigkeit übertrifft.
Fazit: Patruschew muss nicht nach der Macht greifen. Er hält sie bereits in Händen. Gegen den Chef der Sicherheitsorgane läuft nichts in Mosgen
Russlands Machthaber Putin. kau. Es darf aber bezweifelt werden, dass Patruschew Präsident werden möchte. Er ist kein Politiker, sondern der Mann, der das letzte Wort haben will.
4 Der „Fürst“von Moskau
Volles silbergraues Haar, groß und schlank, elegant gekleidet. Der Moskauer Bürgermeister Sergei Sobjanin wirkt wie ein Mann von Welt. Dabei stammt der 63-Jährige aus den menschenleeren Weiten Sibiriens, wo er sich zu Sowjetzeiten vom Schlosser zum Ingenieur hocharbeitete und in der KPDSU Karriere machte. Putin förderte den Parteisoldaten, ernannte ihn zum Vizepremier und ebnete ihm den Weg ins mächtige Moskauer Bürgermeisteramt. Wer die Hauptstadt regiert, hat in Russland traditionell enormen Einfluss. Allerdings verspielte Sobjanin viele Sympathien im Volk, als er 2017 den Abriss großer Plattenbausiedlungen durchsetzte, wodurch 1,6 Millionen Menschen ihre Wohnungen verloren. Außerdem hat der Moskauer „Regionalfürst“mit den sibirischen Wurzeln, anders als die Petersburger Medwedew und Setschin, nicht die ganz große persönliche Nähe zu Putin.
Fazit: Der smarte Sobjanin wäre im Westen als Putin-nachfolger sicher am leichtesten zu vermitteln. Er hat daher vor allem dann eine Chance, wenn im Kreml nach einer gesichtswahrenden Lösung für den Krieg gesucht würde.
5 Das Wunderkind
Sergei Kirijenko war gefühlt immer der Jüngste. Boris Jelzin machte den Finanzfachmann 1998 mit nur 35 Jahren zum Chef einer Reformregierung. Zuvor war der Sohn eines jüdischen Russen und einer Ukrainerin schon Komsomolsekretär gewesen, hatte Wehrdienst geleistet, zwei mustergültige Examen abgelegt, eine Bank gegründet und das Energieministerium geleitet. Putin hielt später an Kirijenko fest, obwohl der als Westler galt und für die radikale Liberalisierung der Wirtschaft in den 90er Jahren stand. Nach einem Gastspiel als Gouverneur an der Wolga leitete Kirijenko elf Jahre lang die einflussreiche Atomenergiebehörde Rosatom. Heute, mit dann doch schon 59 Jahren, ist er Vize der Kremladministration und im engsten Umfeld Putins angekommen.
Fazit: „Kann alles, wird nichts“, sagen Kremlkenner über Kirijenko. Jedenfalls werde er nicht Präsident. Warum nicht? Weil der Vater Jude war und die Mutter Ukrainerin.
6 Was wäre, wenn …
...Putin morgen weg wäre? Dann liefe es wohl wie bei der Papstwahl in Rom. Schon weil Frauen beim Machtkampf im Kreml so chancenlos sind wie im Vatikan. Denn viel zu patriarchal geprägt sind Politik und Gesellschaft in Russland. Also würden die Alphatiere hinter verschlossenen Türen wie beim Konklave um die Putin-nachfolge ringen. Klar ist: Gegen Setschin als Vertreter der Energiegiganten und Patruschew als Chef des Militärund Sicherheitsapparats ginge nichts. Beide sind aber keine Menschen, die es selbst in die erste Reihe zieht. Sie würden daher wohl unter sich ausmachen, wer auf Putin folgt. Entscheidend dürfte die Lage in der Ukraine sein: Wer kann den Krieg gewinnen oder ihn so beenden, dass es nach Sieg aussieht? Medwedew, Sobjanin und Kirijenko stehen sicher auf dem Zettel der „Zarenmacher“– und womöglich ein oder zwei Überraschungskandidaten.