Augsburger Allgemeine (Ausgabe Stadt)
Reisen mit Risiko: Die Türkei hält über 100 Deutsche fest
Oft reicht ein Beitrag in sozialen Medien, der von den Behörden als Beleidigung des Staatspräsidenten Erdogan gewertet wird, für eine Verhaftung aus. Linken-politikerin Akbulut fordert „mehr Mut“von der Bundesregierung.
Istanbul Die Türkei hindert mehr als 100 Deutsche an der Rückkehr in die Bundesrepublik. Derzeit sind 55 Bundesbürger in türkischer Haft, 49 weitere unterliegen einer Ausreisesperre. Das geht aus der Antwort des Auswärtigen Amtes auf eine Anfrage der Linken-bundestagsabgeordneten Gökay Akbulut hervor, die unsere Redaktion vorliegt. Viele Bundesbürger würden wegen Beiträgen in sozialen Medien festgehalten, die ihnen von der türkischen Justiz als strafbare Präsidentenbeleidigung oder als Unterstützung von Terrororganisationen ausgelegt würden, erklärte Akbulut. Sie forderte die Bundesregierung auf, sich „mutiger“gegen Präsident Recep Tayyip Erdogan zu stellen.
Die Zahlen wurden zu Beginn der Ferienzeit bekannt, in der Millionen Deutsche und Deutsch-türken in die Türkei reisen, um Urlaub zu machen oder Verwandte zu besuchen. Besonders Deutsche türkischer Herkunft laufen bei den Besuchen Gefahr, wegen Online-äußerungen festgenommen und vor Gericht gebracht zu werden. Anlass sind häufig Kritik an Erdogan oder Kommentare zur Kurdenpolitik, die als Unterstützung für die Terrororganisation PKK gewertet werden.
Deutschland und die EU kritisieren seit Jahren, die Türkei entferne sich von den rechtsstaatlichen Vorstellungen Europas. Kritische Äußerungen, die in der EU von der Meinungsfreiheit geschützt sind, werden in der Türkei mit Gefängnisstrafen geahndet. Erdogans Regierung weist die Vorwürfe zurück und hält ihrerseits den Europäern vor, nicht entschieden genug gegen anti-türkische Organisationen in ihren Ländern vorzugehen. Bundeskanzler Olaf Scholz hatte bei seinem Antrittsbesuch in der Türkei im März die Inhaftierung von Bundesbürgern in der Türkei angesprochen und gesagt, bei diesem Thema gebe es Differenzen. Dennoch bezeichnete Scholz den Zustand der bilateralen Beziehungen als gut.
Die neuen Zahlen festgehaltener Bundesbürger zeigen einen Rückgang von Fällen im Vergleich zum Vorjahr, lassen aber keine grundsätzliche Kurswende der Türkei erkennen. Im August hatte die Bundesregierung erklärt, sie wisse von 119 Bundesbürgern, die in Haft saßen oder mit Ausreisesperren belegt wurden; in diesem Jahr sind es bisher 104. Damals wurde vier Bundesbürgern die Einreise in die Türkei verweigert; in diesem Jahr zählte das Auswärtige Amt bisher drei Einreiseverweigerungen.
Aus der Antwort auf Akbuluts Anfrage ging nicht hervor, aus welchen Regionen in Deutschland die Inhaftierten und Festgehaltenen stammen. Unklar ist auch, wie vielen der Bundesbürger aus politischen Gründen festgehalten werden. Der türkische Geheimdienst
sammelt in Deutschland in Facebook-gruppen und anderen Plattformen sowie bei deutsch-türkischen Gruppen Informationen über mutmaßliche Regierungsgegner. In einigen Fällen kann die türkische Justiz zudem auf offizielle Unterlagen
aus Deutschland zurückgreifen. Vor drei Jahren wurde die Kölner Deutsch-kurdin Gönül Örs in Istanbul festgenommen, weil sie 2012 an einer Aktion eines Pkk-nahen Vereins teilgenommen hatte. In Deutschland war das Verfahren gegen sie eingestellt worden, doch Unterlagen des Bundeskriminalamtes wurden an die türkische Justiz weitergereicht und flossen in den türkischen Strafprozess gegen sie ein. Örs konnte im vergangenen Jahr nach Deutschland heimkehren.
Nach Angaben von Akbulut könnten auch Informationen über türkische und kurdische Vereine in Deutschland an die Türkei gelangt sein. Ihrem Büro liege das Urteil eines türkischen Gerichtes vor, in dem die Namen von mehr als hundert Vorstandsmitgliedern kurdischer Vereine in Deutschland aufgelistet seien.
Die Bundesregierung hatte in der Antwort auf eine andere parlamentarische Anfrage im April „aus Gründen des Staatswohls“nicht sagen wollen, ob solche Daten weitergegeben worden sind. Akbulut forderte, türkische Behörden dürften keine „Vereinsdaten mit oppositionellem Türkei-bezug“aus Deutschland erhalten. Die Bundesregierung solle „für Klarheit sorgen, in welchem Umfang sie Informationen dieser Vereine mit türkischen Behörden geteilt hat“. Eine solche Datenübermittlung sei besonders für kurdische Vereinsmitglieder bei Reisen in die Türkei „eine ernsthafte Gefährdung“, erklärte Akbulut. „Informationen zu Menschen, die sich hier am Vereinsleben beteiligen, dürfen daher unter keinen Umständen an ausländische Dienste weitergegeben werden.“