Augsburger Allgemeine (Ausgabe Stadt)
Francesca Melandri: Alle, außer mir (152)
SStellen Sie sich vor: Eines Tages steht vor Ihrer Tür ein junger, dunkel häutiger Flüchtling, der begründet behauptet, Enkel Ihres Vaters zu sein. Was wird nun passieren? Ein Szenario, hier – nicht ohne Sarkasmus – in einer römischen Familiengeschichte über drei Generationen hinweg durchgespielt. © 2018 Verlag Klaus Wagenbach, Berlin
o entschlossen hatten sie ihn noch nie gesehen. In der Küche schien einen kurzen Moment lang das Echo einer Familie widerzuhallen, die anders war als ihre, in der der Vater nicht auf den Körper seiner Frau verzichtete, in der die Söhne nicht von den Eltern untereinander aufgeteilt wurden durch gegensätzliche Loyalitäten. Doch das währte nur kurz.
„Attilio ist noch zu klein“, wandte Viola ein. Und sie hatte Recht: Er war ein Jahr jünger als das erlaubte Mindestalter der staatlichen Freudenhäuser. Ernanis Autorität, so flüchtig wie der Schatten auf einer Wand, war schon verflogen. Also ging nur Otello mit seinem Vater.
Bei den Appellen der Jugendgruppen verlor sich Attilio manchmal im Anblick der Giovani Italiane, deren Brüste gegen die weiße Bluse drückten, rechts und links der dunklen Krawatte. Doch das Versprechen barg nur Trug und Enttäuschung: Für einen italienischen Jungen waren die Liebreize von Altersgenossinnen
unerreichbar. Und selbst wenn eine von ihnen ihm gar Zugang zu dem Geheimnis zwischen ihren Beinen gewährt hätte, wäre er vielleicht selbst aus Unsicherheit zurückgeschreckt. Als Attilio an jenem Abend mit der Mutter in der Küche zurückblieb, verwandelte sich der Groll gegen sie in blanken Hass. Doch gleichzeitig empfand er eine gewisse Erleichterung, einer Gefahr entronnen zu sein – besser gesagt sie aufgeschoben zu haben.
In den nächsten Monaten nahmen Ernani und Otello besondere Rücksicht auf ihn. Bevor sie sich nach dem Abendessen die Hüte aufsetzten, warteten sie, bis er die Küche verlassen hatte. Doch am Abend seines achtzehnten Geburtstags stand er als Erster von der Tafel auf und sagte zum Vater, ohne die Mutter anzusehen: „Also gut, können wir?“Viola musste nachgeben. An diesem Abend endete ihr allmächtiges Vorrecht der Mutter auf den Körper des Sohnes.
Auf der Straße nach Bagnacavallo sprach niemand ein Wort, weder Vater noch Söhne. Das Korn auf den rechteckigen Feldern war gerade erst gemäht, in der Luft lag der Geruch nach Stroh. Die Sterne waren Lichtschlieren im Dunst. In den Pappelreihen setzten sich die Spatzen mit letztem Gezwitscher zur kurzen Sommernacht zurecht. Attilio atmete ein, sah sich um und lauschte mit den geschärften Sinnen eines Jägers; die nicht asphaltierte Straße klang elastisch unter seinen Füßen nach. Er spürte sein Verlangen und seine Angst, überlegte kurz, in die Küche der Mutter zurück zu fliehen, würde aber, wenn er das tat, vielleicht ein Messer nehmen und sie erstechen müssen. Schweigend lief er weiter.
Als sie das Freudenhaus erreichten, ging die Tür auf, ohne dass sie klingeln mussten. Schwere Luft schlug ihm entgegen. Eine Mischung aus Zigarettenrauch – Nazionali, Popolari, Alfa – und dem Geruch nach Seife und Lysoform, das Ganze bedeckt von einer Schicht billigen Parfüms: Arpège, Amour Amour, Moment Suprème. In der Vorhalle saßen Männer jeden Alters auf unechten Empire-sofas, während zwischen ihnen halbnackte Frauen flanierten: in Slip und BH, im Rock und oben ohne, nur mit einer offenen Bluse über dem nackten Körper. Die Maitresse, die ein graues Kleid trug wie eine Telefonistin, saß hinter dem schlichten Tresen aus dunklem Holz und begrüßte Ernani äußerst liebenswürdig. Attilio stockte vor Verlegenheit und schlechter Luft fast der Atem. Um nicht auf den Boden zu starren, sah er mit großen Augen auf das breite Gesäß einer Brünetten, die lasziv, aber abwesend in einem Türrahmen lehnte. Direkt vor ihm ging ein Rock aus durchsichtigem Tüll vorbei, unter dem er verwirrt das Fehlen von Unterwäsche und einen dichten Busch schwarzer Schamhaare erahnte. Das also befand sich da in der Mitte, zwischen den Beinen der Frauen. Das hatte er noch nie im Leben gesehen.
Der Vater winkte einer jungen Frau, deren Bluse über dem von Dehnungsstreifen gezeichneten üppigen Busen offen stand, sie solle sich um seine Söhne kümmern. Sie kam näher, stellte sich vor das Brüderpaar und lächelte, als habe sie einen Preis gewonnen.
„Willkommen, schöne Jugend!“, sagte sie mit freudiger Stimme und versenkte ihren Blick in Attilios blaue Augen. „Und wie heißt unser Neuankömmling hier?“
Ernani blickte mit wohlwollendem Vaterblick, zwischen Ironie und Stolz, auf diesen Sohn, der jener Frau viel zu ähnlich sah, die er hoffnungslos liebte.
„Attila“, erwiderte er.
Die Puffmutter brach in ein breites Gelächter aus, das in einem Wimpernschlag ihre würdevolle Haltung Lügen strafte.
„Mädchen, aufgepasst! Die Geißel Gottes ist da!“
Und alle zusammen, Kunden, Prostituierte, Puffmutter und auch Ernani und Attilio, stimmten in den Heiterkeitsausbruch ein. Der Einzige, der nicht lachte, war Otello, doch das fiel niemandem auf.
Um Attila standesgemäß im Erwachsenenalter willkommen zu heißen, erklärte die Prostituierte mit lauter Stimme, würde sie ihm und seinem Bruder eine besondere Behandlung zukommen lassen: zwei Huren zum Preis von einer. Ernani lächelte der Maitresse zu, die ebenso großmütig wie berechnend ihre Zustimmung signalisierte. Die anderen Anwesenden applaudierten zu der bevorstehenden Entjungferung.
Otello jedoch hatte nur zu gut verstanden, dass das Angebot der Prostituierten nicht wirklich für beide ein Schnäppchen war. Es bedeutete eine Hure gratis für Attilio.
Mussolinis Züge hatten fast immer Verspätung. Vor allem auf den Nebenstrecken wie Bologna–ravenna. Die Fahrpläne, die am Bahnhof von Lugo aushingen, boten eher grobe Zeithinweise, und die meisten Reisenden wussten das. Natürlich wusste es auch Ernani, doch ein einfacher Bahnhofsvorsteher konnte da nicht viel machen. Die Ursachen waren grundlegende Mängel im italienischen Schienennetz. Zu viele Verbindungen hatten nur ein Gleis, der Maschinenpark war – bis auf wenige, stolz präsentierte Ausnahmen - zu alt, marode die Infrastruktur. Doch in der Zeitung, die Ernani beim zweiten Morgenkaffee im Aufenthaltsraum des Bahnhofs durchblätterte, war oft die Rede von der exzellenten Pünktlichkeit der italienischen Züge, als Frucht der neuen Ordnung, die der Faschismus gesät habe.
In dieser triumphierenden Propaganda steckte wenig Wahrheit, und Ernani las sie und hatte im Bauch das Gefühl zu fallen, während in schneller Folge die Gesichter des mazzinischen Großvaters, des anarchischen Vaters Toleriertnicht und das von Rizzatello Beniamino an ihm vorbeizogen, der von den Schwarzhemden weggezerrt wird. Von diesem schwarzen Gefühl erzählte er niemandem, Viola schon gar nicht.
Sein Schweigen wurde nicht schlecht entlohnt. Mussolini hatte begriffen, wenn die Eisenbahner den Bauch voll hatten, würden sie sich nicht noch einmal wie 1919 hinter die Arbeiter stellen.