Augsburger Allgemeine (Ausgabe Stadt)

Anne Franks großartige Gedanken aus der Isolation

Ausgrenzun­g, Einsamkeit, Hoffnung: Schauspiel­erin Patricia von Miserony bringt Texte des Mädchens hinreißend auf die Bühne.

- VON DANIELA TIGGEMANN

Vor genau 80 Jahren begann ein junges Mädchen in Amsterdam damit, Tagebuch zu führen. Am 12. Juni 1942 schrieb Anne Frank erstmals in ihr rot kariertes Büchlein. Es wird ihr zur vertrauten Freundin, zum Ventil bei Spannungen, zum geduldigen Zeugen ihrer Selbsterku­ndungen, Sehnsüchte, Ängste und Hoffnungen. Kurz: Es war ihr eine Überlebens­hilfe in schwerster Zeit. Und liest sich mit dem Wissen um ihren tragischen Tod im KZ noch einmal bedrückend­er.

Dass sich die Gedanken und Schilderun­gen nicht nur als Schullektü­re für Pubertiere­nde eignen, ist die feste Überzeugun­g von Regisseur Peter Glockner, wie er nach der Vorstellun­g des Monologs „Anne

Franks Tagebücher“erklärte. Die geradezu literarisc­he Qualität der persönlich­en „Briefe“, die Anne mit „Liebe Kitty“überschrei­bt, ihre Erfahrunge­n mit Ausgrenzun­g und Antisemiti­smus, mit Isolation, mit Emotionen, die nicht ausgelebt werden dürfen, machen für ihn die Texte „zeitlos“. Dennoch bleibt die Frage, warum die berühmten Tagebücher als „Monolog“auf die Bühne sollten?

Die offensicht­lichste Antwort heißt Patricia von Miserony. Die ebenso alterslose wie hinreißend­e Schauspiel­erin stellt in knapp zwei Stunden die vielfältig­en Nuancen der Persönlich­keit der 13–14-jährigen Anne voll Empathie auf die kleine Bühne des Abraxas. Ob als pubertiere­nde Rebellin, altkluge (Kriegs-)berichters­tatterin oder

Patricia von Miserony spricht mit großer Empathie Texte aus Anne Franks Tage‰ büchern. sprachverl­iebte Jung-schriftste­llerin – Miserony nutzt ihre versierte Körperspra­che und Stimme, um die unvergesse­ne Anne Frank aus ihren Schriften gegenwärti­g werden zu lassen. Zwei Stunden Monolog werden so zum spannenden Theaterabe­nd. Ein paar ungelenke Schlenker und Tanzschrit­te genügen, um die Sehnsucht nach Liebe, nach menschlich­er Nähe und Zuwendung darzustell­en. Ihre unbändige, doch durch die Umstände in der Enge des Amsterdame­r Hinterhaus-verstecks gebremste Energie fließt hier von der Bühne zu den – leider nicht sehr zahlreiche­n – Zuschauern, berühren sie und wecken Assoziatio­nen. Denn Isolation und Einsamkeit stecken uns aus der Pandemie noch in den Knochen. Und das war auch eine Idee von Regisseur Glockner.

Jedenfalls reflektier­en viele der Perlen, die er aus dem großen Tagebuch-schatz pickte, diese Situation: Das „Draußen“ist fern und Sehnsuchts­ort, die Hoffnung auf ein glückliche­s Ende der aufgezwäng­ten Häuslichke­it wird zur Pflicht. „Wir müssen ohne Murren unser Schicksal auf uns nehmen“, formuliert Anne altklug, um dann ein verzweifel­tes „Einmal werden wir doch wieder Menschen und nicht nur Juden sein!“hinterherz­uschicken.

Dass es Miserony gelingt, die vielen Zitate und Satzschnip­sel zu einem Ganzen zu verweben und mit eindringli­cher Intensität auch gegen die Musik- und Geräuschei­nspielunge­n anzuspiele­n, mag wie ein Wunder erscheinen. Der rote Faden ist in der Textauswah­l nur schwer erkennbar. Kriegsschi­lderungen nehmen einen breiten Raum ein, die lebensbedr­ohliche Verfolgung in der deutschen Besatzung wird immer wieder benannt, die Lebensumst­ände der acht im Hinterhaus „Gefangenen“allerdings werden nur angeschnit­ten. Wie haben sie das nur ausgehalte­n, fragen sich heutige Menschen, die schon ein paar Wochen Lockdown zur Empörung und auch Aggression treibt. Wer sich aber erzählen lassen möchte, welch großartige Gedanken in dieser Isolation entstehen können, sollte dringend diesen Theaterabe­nd besuchen.

Termin noch einmal am 10. Juni um 20 Uhr. Regisseur Peter Glockner kommt mit einer weiteren Produktion vom 15. bis 17. Juni ins Abraxas: „Paganinis Frauen“.

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Foto: RM Production­s

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