Augsburger Allgemeine (Ausgabe Stadt)

Bürokratie bringt Geflüchtet­e an ihre Grenzen

Der Staat verspricht unbürokrat­ische Hilfe für Menschen aus der Ukraine, aber die Kommunen tun sich schwer damit. Ein Augsburger Beispiel.

- VON SILVIA KÄMPF

Die von der Regierung versproche­ne unbürokrat­ische Hilfe für in Deutschlan­d angekommen­e ukrainisch­e Flüchtling­e stößt an ihre Grenzen. Nach Ankerzentr­um, Ausländerb­ehörde und Sozialamt werden sie laut Tanja Hogganklou­bert nun vom Jobcenter angeschrie­ben und sollen wieder Formulare ausfüllen. Am Info-point des Deutsch-ukrainisch­en Dialogs am Königsplat­z kommen ratlose Menschen mittlerwei­le mit Ordnern voller Schriftver­kehr an und erbitten Hilfe. Geflüchtet­e, die nie in einem solch bürokratis­chen System zu Hause waren, sagt Kloubert, resigniere­n. „Denn wir am Info-point schaffen vielleicht 35 Leute pro Tag.“Die Zahl derer, die Hilfe benötigen, sei ungleich höher.

Seit Galina vor gut drei Monaten ihre Heimat Luzk in der Ukraine verließ und nach Deutschlan­d kam, ist für sie nichts mehr selbstvers­tändlich. Freuen kann sie sich in den Kriegswirr­en über die Familienzu­sammenführ­ung mit ihrem Mann Oleksandr, mit dem sie und Sohn Dima eine eigene Wohnung der AWO im Herrenbach bezogen haben. Sie sind in Sicherheit. Doch nun muss sich die 45-Jährige mit Schwierigk­eiten auseinande­rsetzen, die sie erneut an die Grenze der Belastbark­eit bringt. Es ist der Kampf durch eine Flut von Formularen.

Erst im September hatte ihr Mann Oleksandr in einem Altenheim seine Ausbildung zur Altenpfleg­efachkraft angetreten. Das Paar ist seit seiner Wiedervere­inigung darum bemüht, alles richtig zu machen, um in der fremden Umgebung heimisch zu werden. Gar nicht so einfach: Jetzt soll er bis Monatsende seine Bankverbin­dung und seine Besitzverh­ältnisse in der Ukraine offenlegen. Als Erstes wurde aber der Antrag auf Registrier­ung abgelehnt, weil bei der zuständige­n Behörde eine wesentlich­e Auskunft unter den Tisch fiel.

Viele Geflüchtet­e aus der Ukraine kommen zum Infopoint am Königsplat­z, um Hilfe für bürokratis­che Anliegen zu bekommen. Marina Sidak vom Deutsch‰ukrainisch­en Dialog, die Ukrainerin Viktoriia Kaliesnile­ova sowie die Helferinne­n Teresa Frohnwiese­r und Irina Gröger (von links) haben oder beantworte­n Fragen.

der Bezirksver­band der Arbeiterwo­hlfahrt als „Wohnungsge­ber“in Stadtberge­n ansässig ist, sei der Landkreis und nicht die Stadt Augsburg zuständig, hieß es. Zwei Zeilen weiter wäre deutlich geworden, dass sich besagter Wohnraum in Augsburg befindet. Ein Versehen des Amtes, das jetzt die Mieter zu spüren bekommen. Gerade die Wohnungssu­che gehe oft mit Enttäuschu­ngen einher – für Deutsche ebenso wie für Ukrainer, geschweige denn für Afghanen oder Syrer.

Die Fachleute vom Info-point nennen die Situation „komplizier­t“, auch wenn sie angeben, es sei seit Beginn des Krieges „schon besser geworden“. Auf etwa 90 Prozent der Hilfesuche­nden beziffern sie die Quote derer, denen sie auch helfen können. So seien die Formulare ge

und übersetzt worden. Dennoch komme man bei gewissen Problemfäl­len – gerade im medizinisc­hen Bereich – an Grenzen. So wie im Fall von Galina und Oleksandr. Am Samstag trennen sie sich wieder für drei Wochen, weil Galina mit dem Sohn heimreist, um dort Dringliche­s zu regeln.

Auch die Lebenshalt­ung in Deutschlan­d ist mühsam. Denn die staatlich zugesicher­ten Hilfen wurden erst einmal nicht ausbezahlt. Mutter und Sohn entgingen dadurch gut 500 Euro im Monat. Bis vor wenigen Tagen das Geld ausbezahlt wurde, lebte die dreiköpfig­e Familie von der Ausbildung­svergütung des Vaters. Auch die Lebensmitt­elgutschei­ne, die ihnen zugesicher­t wurden, entpuppten sich als Hemmschuh. Während sie laut Soweil

zialamt in jedem Geschäft einzulösen gewesen wären, wurden sie tatsächlic­h überall abgelehnt. Lediglich Aldi und Lidl akzeptiert­en sie.

Der Weg zum Briefkaste­n ist inzwischen gefürchtet. „Welche Überraschu­ng wird er bereithalt­en?“, fragt sich die Familie jeden Tag. Jüngst war es ein Schreiben des Sozialamte­s, das darauf hinwies, dass noch folgende Unterlagen benötigt würden: der Nachweis über Familienve­rsicherung bei der Krankenkas­se, die Lohnabrech­nungen vergangene­r Monate, der Kindergeld­bescheid, der Kindergeld­zuschlagsb­escheid, die Bescheide über Berufsausb­ildung, Wohngeld und die Änderung der Lohnsteuer­klasse.

Obwohl Oleksandr über gute Deutschken­ntnisse verfügt, kann er mit so manchem Wort nichts anfankürzt

gen. „Was bitte ist ein Kindergeld­zuschlagsb­escheid?“Wie ergeht es da erst Flüchtling­en, die noch am Anfang ihres Spracherwe­rbs stehen? Das fragen sich auch die Mitglieder vom Ukrainisch­en Verein und vom Info-point Deutsch-ukrainisch­er Dialog. So gehe es inzwischen vielen, sagen sie. Verunsiche­rung, Resignatio­n, ja Angst machten sich mit Erhalt eines jeden Schreibens breit. Aufgrund der Fülle von Papieren seien die beglaubigt­en Übersetzer mittlerwei­le überlastet.

Viele der Geflüchtet­en stehen laut Tanja Kloubert kurz vor der Kapitulati­on. Auch die Familie im Herrenbach. Für die Verständig­ung im Alltag versucht sich Galina täglich einige Worte Deutsch einzupräge­n. Ansonsten ist der Handyübers­etzer ihr ständiger Begleiter.

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Foto: Dominik Schätzle

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