Augsburger Allgemeine (Ausgabe Stadt)
Wenn der Staat einfach endet: Willkommen in Próspera
Deinzige Weg nach Crawfish Rock führt über eine unbefestigte Straße voller Schlaglöcher. Schon deshalb fahren die Taxifahrer von Roatán nicht gerne hierhin. Immer wieder bleibt das Auto im unebenen Boden stecken, der Sand knistert im Getriebe. Auf halber Strecke zwischen der Kleinstadt French Harbour und dem Fischerdorf kommt man an einem großen Gattertor vorbei, das mit zwei nach oben gerichteten Zacken verziert ist: das Zeichen von Próspera, der Aufblühenden, ein neuer Staat im Staate Honduras, der bald 30.000 Bewohner beherbergen soll und das Land spaltet wie kein Thema zuvor in der Geschichte des Karibikstaates.
Ab dem Tor endet offiziell sein Hoheitsgebiet, auch daran zu erkennen, dass das Taxi plötzlich nicht mehr rumpelt. Erst vor wenigen Monaten ist die Straße asphaltiert worden, die Erschaffer von Próspera scheinen es ernst zu meinen mit ihrem Vorhaben.
Nach einigen weiteren hundert Metern muss man sich entscheiden: Fährt man nach links, kommt man nach Crawfish Rock, ein Dorf, das heißt und aussieht wie ein Piratennest. Auf dem Dorfplatz rennen Jugendliche einem Ball hinterher, vor den Lebensmittelläden liegen Hunde faul im Schatten und im Hintergrund kann man hören, wie die Wellen sanft ans Ufer schwappen.
Fährt man nach rechts, wird man nach einigen Metern durch ein Schild daran erinnert, dass man das eigentlich nicht darf. „We create jobs for Islanders“, ist zu lesen – man schaffe Stellen für Einheimische –, und ebenso „We believe in Private Property“: Wir glauben an Privateigentum.
Ab hier überwachen Sicherheitskameras jeden Schritt, ein gelangweilter Security-mann bittet den Reporter freundlich, zu gehen. Hier hört Honduras auf zu existieren, beginnt das Herrschaftsgebiet von Próspera Inc., das Unternehmen, das die sogenannte Sonderentwicklungszone verwaltet. Doch wirklich viel zu sehen gibt es nicht. Im schwachen Licht der untergehenden Sonne kann man ein größeres Bürogebäude erkennen, gesäumt von kleineren Bungalows, die für 500 Dollar im Monat gemietet werden können. Eine Stadt ist das noch nicht und außer dem Security-mann ist niemand hier. Die Bagger und Planierraupen stehen bereits seit mehreren Wochen still.
Was hier passiert, ist so verrückt, dass man es erst glauben kann, wenn man da war. Seit einigen Jahren wagen hier ein paar Libertäre ein Experiment: Man möchte seine eigene Stadt bauen, mit eigenen Regeln, eigenen Gesetzen und ohne vom sie umgebenden Staat behelligt zu werden. Unter den Gründern und Investoren sind bekannte Namen aus dem Silicon Valley dabei: Patti Friedman, Enkel des Wirtschaftswissenschaftlers Milton Friedman, ebenso wie Paypal-mitgründer Peter Thiel, der kürzlich durch sein Engagement des gescheiterten österreichischen Kanzlers Sebastian Kurz Schlagzeilen machte.
Einer der Vordenker der Privatstadtidee kommt allerdings aus Deutschland: Titus Gebel, Vorstandsvorsitzender der Deutschen Rohstoff AG, der mit seinem Buch „Freie Privatstädte: Mehr Wettbewerb im wichtigsten Markt der Welt“eine Art Standardwerk zum Thema geschrieben hat. Mit seiner „Free Private Cities Foundation“arbeitet er daran, das Konzept in der ganzen Welt bekannt zu machen.
Was diese Städte so besonders macht, ist die völlige Abwesenheit von Politik. Staatliche Leistungen gibt es nicht mehr, alles ordnet sich dem Dienstleistungsgedanken unter. Sicherheit, Müllabfuhr, Strom- und Wasserversorgung und Bildung sind private Leistungen, die über ein dier gitales System beantragt und auch wieder abbestellt werden können, frei nach dem Vorbild aus Estland, das seine Verwaltung vollständig digitalisiert hat. Kommt es unter den Bewohnern zu Streit, verhandelt ein privates Schiedsgericht. Und wem es nicht gefällt, der kann die Betreiberfirma auf Schadensersatz verklagen – oder sich, frei nach den Regeln des Wettbewerbs, in einer anderen Privatstadt niederlassen.
In Gebels Vorstellung hat sich die Politik überflüssig gemacht, die Verwaltungen sind nicht mehr an ein parlamentarisches Mehrheitsprinzip gebunden. Von neun Stadträten werden vier von der Betreiberfirma direkt bestimmt. Diese hat damit ein ewig währendes Vetorecht. Die Grundstückseigner ernennen zwei Mitglieder, ihr Stimmanteil ergibt sich aus der Größe ihres Besitzes. Nur drei Stadträte sollen die Bewohnerinnen und Bewohnern selbst wählen.
Um das Ganze zu finanzieren, zahlen die Bewohner einen Grundbetrag, der für Honduraner bei 260 Dollar liegt, für Ausländer bei 1.300 Dollar. Damit sich finanzstarke Firmen in Próspera ansiedeln, werden die Steuersätze extra niedrig gehalten: zehn Prozent Einkommenssteuer, 2,5 Mehrwertsteuer, ein Prozent Grundstückssteuer. Ein selbst gebasteltes Steuerparadies von Reichen für Reiche.
Am Neujahrstag des Jahres 2022 torkelt ein noch oder schon wieder alkoholisierter Mann durch die breiten Straßen von Crawfish Rock und ruft Venessa Cardenas hinterher, wie schön sie sei. Die macht eine Handbewegung, als würde sie eine lästige Fliege verscheuchen. Das Dorf zählt nur wenige hundert Einwohner, man kennt sich hier. Aber seit nebenan die neuen Nachbarn eingezogen sind, hat die Dorfgemeinschaft Risse bekommen.
Anfang der 90er kamen Investoren und Geld nach Roatán und bauhier ten ein Hotel neben das andere. Seitdem blüht die Region mit seiner Nachbarinsel Utila auf. Das Wasser bleibt in den Wintermonaten warm und algenfrei, die Küstengebiete locken mit den zweitgrößten zusammenhängenden Korallenriffen der Welt. Im Gegensatz zum Festland können sich Touristen hier angstfrei bewegen.
2017 habe Cardenas zum ersten Mal mit Erick Brimen Kontakt gehabt, erzählt sie. Brimen, halb Venezolaner, halb Amerikaner ist so etwas wie der Bürgermeister von Próspera, nur heißt er eben nicht Bürgermeister, sondern CEO. Er habe Cardenas erklärt, es handle sich um ein neues Tourismusprojekt. Das benachbarte Pristine Bay, eine Gated Community, in der vorwiegend reiche Ausländer leben, sollte einen Anbau bekommen. Man wolle alle einbinden, habe Brimen erklärt, auch die Ungelernten, es gebe viel zu tun. Heute hat Cardenas Zweifel an dieser Aussage: „Die allermeisten von hier haben doch gar nicht die Qualifikation, um in so einer Stadt zu arbeiten“, sagt sie. „Ich glaube, die wollen unsere Lagune haben.“
Cardenas ist Lehrerin, sie spricht Spanisch und Englisch als Muttersprache, mit starkem kreolischen Einschlag. Sie gehört zur Volksgruppe der Garifuna, einer schwarzen Minderheit, die in den 1950er Jahren nach Honduras einwanderte und die Karibikregionen besiedelte. Sie sind es gewohnt, dass die Zentralregierung in der Hauptstadt Tegucigalpa sie ignoriert. Jahrelang habe ihre Großmutter dafür kämpfen müssen, dass Crawfish Rock an die Stromversorgung und die Kanalisation angeschlossen wird. Man ertrug es mit karibischer Gelassenheit. Erst seit wenigen Jahren gibt es eine Internetleitung, die Wasserversorgung läuft weiterhin über einen örtlichen Brunnen. Wer hier wohnt, verdient selten mehr als 350 Dollar im Monat. Sie
Wohnungsentwürfe für die Privatsadt Próspera, sie stammen vom Londoner Ar chitekturbüro Zaha Hadid.
Federführende Investoren: Titus Gebel (l.) und Erick Brimen.
Prominente (zeitweilig) Beteiligte: Paul Romer (l.) und Peter Thiel. habe nichts dagegen, dass man dort eine Stadt bauen wolle, aber: „Ich möchte Honduranerin bleiben. Die können ja meinetwegen ihre Stadt bauen. Aber warum muss es denn ein unabhängiger Stadtstaat sein?“
Dass Privatstädte größere Aufmerksamkeit erlangten, liegt vorwiegend an Paul Romer. 2009 hielt der spätere Chefökonom der Weltbank einen viel beachteten TED-TALK, in dem er sein Konzept der „Charter City“vorstellte. Sein Plan: In unterentwickelten, korrupten Ländern mit schwacher Wirtschaftsleistung sollen kleine Inseln der Bürokratie- und Korruptionsfreiheit errichtet werden, die der Region zu Wachstum und Wohlstand verhelfen sollen. Als Idealbild diente stets die frühere britische Kolonie Hongkong.
Den ersten konkreten Aufschlag wagte man in Honduras, wo sich die rechtskonservative Regierung dafür starkmachte, einzelne Landesgebiete in sogenannte „Zonen für Beschäftigung und wirtschaftliche Entwicklung“, kurz „ZEDES,“umzuwandeln und die Souveränität über diese Gebiete abzugeben. 2012 schied Paul Romer aus den Verhandlungen aus, nachdem die Regierung ohne vorherige Absprache Verträge mit internationalen Investoren unterzeichnet hatte. Damit wandten sie sich klar gegen Romers Absicht, das abgegebene Staatsgebiet unter die Hoheit eines anderen Staates zu stellen. Vielleicht erkannte aber Romer auch, dass man den Verhandlern auf der Gegenseite nicht trauen konnte. 2012 hatte der Oberste Gerichtshof in Honduras die Pläne als verfassungswidrig abgelehnt. Auf Druck des damaligen Parlamentspräsidenten und späteren Staatsoberhaupts Juan Orlando Hernandez von der Nationalen Partei wurden die Richter über Nacht ausgetauscht. Mit Romers Rückzug überließ er radikallibertären Kräften wie Erick Brimen und Titus Gebel das Feld.
Einem größeren Publikum wurden die Pläne allerdings vor allem durch ein Video bekannt. Am 28. September 2020, spät am Abend, trifft Erick Brimen in Crawfish Rock ein, um den Anwesenden ihre Rechte vorzulesen. Die Stimmung ist bereits gereizt im Dorf, dazu wütet die Pandemie. Man hatte ihn noch gebeten, die Veranstaltung abzusagen. Doch Brimen ignoriert die