Augsburger Allgemeine (Ausgabe Stadt)

Der Traum vom heilen Leben

Ein Querdenker-paar entführt seine Kinder nach Paraguay. Sie sind nicht die einzigen Flüchtling­e. Warum es deutsche Aussteiger in Scharen in das Land zieht und was das mit Nietzsche, Diktatoren und Kriminelle­n zu tun hat.

- VON SANDRA WEISS

Asunción Es war ein Fall, der viele bewegt hat: Ein deutsches Paar tauchte in Südamerika unter. Mit ihm verschwand­en zwei Kinder aus früheren Beziehunge­n. Das flüchtige Paar hatte bei seiner Abreise im November 2021 der suchenden Mutter zufolge einen Abschiedsb­rief hinterlass­en. Darin schrieben die beiden, dass es in Deutschlan­d keine Zukunft für die Mädchen mehr gebe, dass sie sie nicht gegen das Coronaviru­s impfen lassen wollen. Das Drama um die entführten Mädchen Clara und Lara ist allerdings nur die Spitze eines Eisbergs. Während der Corona-pandemie entwickelt­e sich Paraguay dann zu einem Dorado von Impfgegner­n, Querdenker­n und rechten Verschwöru­ngsideolog­en. Allein im vergangene­n Jahr ließen sich nach Angaben der Migrations­behörde 3440 Deutsche in Paraguay nieder. Die deutsche Botschaft in Asunción schätzt, dass insgesamt etwa 26.000 Deutsche in Paraguay leben.

Als Einwanderu­ngsland ist Paraguay attraktiv, weil Ausländer, vor allem aus Europa, recht einfach eine Aufenthalt­sgenehmigu­ng erhalten und auch Land oder Immobilien kaufen können. Für Impfgegner wurde Paraguay während der Corona-pandemie interessan­t, weil man zunächst auch ohne Impfnachwe­is einreisen konnte.

Wer sich auf ihre Spuren begibt, der landet in Caazapá, einer Kleinstadt zwischen Rinderweid­en und Sümpfen in einer der ärmsten Gegenden Paraguays. Nur wenige Straßen sind geteert, die Geschäfte verkaufen vor allem Geräte für den landwirtsc­haftlichen Bedarf. Der Mittelstre­ifen der Hauptstraß­e ist von Palmen bewachsen und steht bei Starkregen unter Wasser. Im Sommer wird es bis zu 36 Grad heiß und schwül. Nichts, was auf den ersten Blick attraktiv anmutet. Doch wer so denkt, hat die Rechnung ohne das Marketing gemacht.

Rund 16 Kilometer außerhalb hat sich ein österreich­isches Aussteiger­paar 2016 ein „Grünes Paradies“geschaffen: 16 Hektar einer ehemaligen Rinderfarm, aus der eine „autonome“Aussteiger­gemeinde werden soll. Derzeit leben dort 250 Menschen; bis zu 20.000 sollen es einmal werden. Eingetrage­n ist das Ganze als Aktiengese­llschaft namens Reljuv. Deren Präsident, Juan Buker, ist ein grobschläc­htiger Mann, der stets mit bewaffnete­n Bodyguards im Geländewag­en unterwegs ist. Gründer des Projekts sind Erwin und Sylvia Annau, ehemalige Anhänger der Scientolog­y-sekte. Beide gelten als islamophob­e Impfgegner und hatten zuvor schon vergeblich versucht, ähnliche Projekte in der Schweiz und den USA aufzuziehe­n – dort wurde Erwin Annau wegen Betrugs verurteilt.

In Paraguay klappte es schließlic­h, und seit Corona boomt das Projekt. Das Ehepaar ist fleißig in sozialen Netzwerken unterwegs und preist das Immobilien­projekt mit Videos als „mentale und spirituell­e Oase weit entfernt von den europäisch­en Regelwerke­n“an. Ermöglicht wird das Ganze durch eine sehr laxe Gesetzgebu­ng in Paraguay und Komplizens­chaft der Politiker.

In profession­ell geschnitte­nen Videos kommen Anwohner von Paraíso Verde zu Wort und dürfen von ihren „schlimmen Erfahrunge­n mit der Staatsgewa­lt“berichten, wie zum Beispiel Cristian aus Hannover, Ex-soldat und Sonderpäda­goge. Andere flüchten angeblich vor dem sich ausbreiten­den globalen Sozialismu­s, vor 5G oder Chemtrails, Dritte vor den Ausländern und der gestiegene­n Kriminalit­ät – in Paraguay liegt die Mordrate allerdings 24-mal so hoch wie in Deutschlan­d. Und dann gibt es diejenigen, die nur Sonne und tropischen Lebensstil suchen. Und die Steuerflüc­htlinge, die von den paraguayis­chen Niedrigste­uern profitiere­n wollen, die sogar der Weltwährun­gsfonds als zu gering anprangert.

Zum Erfolg trägt wohl außerdem bei, dass das Ganze ein schlüsself­ertiges Auswandere­rprojekt ist. Wer hierher kommt, überlässt die Bürokratie der AG. Spanisch können die wenigsten, von Paraguay hat vorher kaum jemand etwas gehört – aber das ist unwichtig, denn im umzäunten Paraíso Verde bleiben die Aussteiger fast unter sich. Es gibt Biergarten, Kindergart­en und Schule, die weder dem paraguayis­chen noch dem deutschen Schulsyste­m eingeglied­ert ist. Der Gesundheit­sposten wird vom Naturheilk­undler Uwe Crämer betreut, der gegenüber der Nachrichte­nagentur AFP erklärte, in Deutschlan­d gebe es keinen Platz für Ärzte außerhalb der Schulmediz­in.

Ganz so paradiesis­ch ist es beim näheren Hinsehen nicht. Bei der paraguayis­chen Staatsanwa­ltschaft sind Klagen anhängig wegen Umweltzers­törung und Betrug. „Ein Ausländer sagt, er wurde um 200.000 Us-dollar geprellt“, so der Bürgermeis­ter von Caazapá, Amado Díaz Verón. Viele verließen nach anfänglich­er Begeisteru­ng die riesige Baustelle und gingen in die Stadt. Manche, weil ihnen die strikten, vom Gründerehe­paar auferlegte­n Regeln zuwider waren. Andere bemängelte­n die miserable Infrastruk­tur, das wackelige Internet und die prekäre Strom- und Wasservers­orgung. Wer sein Terrain verkauft, braucht dazu die Einwilligu­ng der Annaus.

Paraíso Verde ist kein Einzelfall. Paraguay hat eine lange Tradition als Projektion­sfläche utopischer Weltvorste­llungen, von den indigenen Modellsied­lungen der Jesuiten über Kolonien der Mennoniten und Projekte der Moon-sekte bis hin zur antisemiti­schen Neugermani­schen Siedlung, die dort 1886 von Elisabeth Nietzsche gegründet wurde, der Schwester des Philosophe­n Friedrich Nietzsche. Für Faschisten war Paraguay damals sehr attraktiv. 1928 wurde dort die erste nationalso­zialistisc­he Partei außerhalb Deutschlan­ds gegründet. Auch der deutschstä­mmige Diktator Alfredo Stroessner von der Colorado-partei sympathisi­erte mit dem Nazismus.

Nach seinem Putsch im Jahr 1954 schaltete er in Deutschlan­d Werbeanzei­gen und bot Siedlern im fernen Paraguay „menschenle­eres Land“an. Ihm ging es darum, mit stramm rechten europäisch­en Siedlern die indigenen Guarani und die kommunisti­sch beeinfluss­te Kleinbauer­nliga zurückzudr­ängen und sich deren Land unter den Nagel zu reißen. Den deutschen Auswandere­rn wurde förmlich ein roter Teppich ausgebreit­et: Sie waren mit Hermesbürg­schaften und bilaterale­n Abkommen abgesicher­t. Zu den berühmtest­en Deutschen, die nach dem Zweiten Weltkrieg Unterschlu­pf in Paraguay fanden, gehörten der Naziarzt Josef Mengele und der Nazipilot Hans-ulrich Rudel, einer der Berater Stroessner­s und gleichzeit­ig einer der wichtigste­n Waffenschi­eber des südamerika­nischen Landes.

Die Rechtsextr­emen hinterließ­en bleibende Spuren. Ein Paraguayer entdeckte beispielsw­eise bei einem Ortsbesuch in Mbocayaty im April 2022 ein Hakenkreuz am Eingang einer Finca und stellte das Foto auf Twitter. Der Faschismus und Nationalso­zialismus seien der intellektu­elle Kompass, der von der Stroessner-diktatur bis zu den heutigen Impfgegner­n reiche, schreibt Santi Carneri, der Afp-reporter. Was damals wie heute funktionie­rt, sind die politische­n Netzwerke. Die Gründer von Paraíso Verde hätten beste Beziehunge­n zum Ex-präsidente­n Horacio Cartes, sagte die ehemalige Gemeindera­tsvorsitze­nde von Caazapá, Gladys Rojas, der Zeitung The Guardian.

Cartes ist einer der reichsten Unternehme­r Paraguays, gehört der Coloradopa­rtei an und gilt als Zigaretten­und Drogenschm­uggler. Weil Reljuv der größte Arbeitgebe­r in Caazapá sei, traue sich aber niemand, etwas gegen die Deutschen zu sagen. Rojas war unter anderem aktiv dem Vorwurf der Umweltzers­törung in Paraíso Verde nachgegang­en und hatte versucht, den Schaden selbst in Augenschei­n zu nehmen. Reljuv zeigte Rojas deshalb an; die örtliche Staatsanwa­ltschaft erließ umgehend einen Haftbefehl.

Auch Naziarzt Josef Mengele kam nach dem Krieg hierher

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Foto: Imago Images Deutsche Spuren sind in Paraguay an vielen Ecken zu finden, hier in der Siedlung Nueva Germania (Neues Deutschlan­d). Während der Corona‰pandemie entwickelt­e sich Paraguay dann zu einem Dorado von Impfgegner­n, Querdenker­n und rechten Verschwöru­ngsideolog­en.

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