Augsburger Allgemeine (Ausgabe Stadt)
Francesca Melandri: Alle, außer mir (155)
EStellen Sie sich vor: Eines Tages steht vor Ihrer Tür ein junger, dunkel häutiger Flüchtling, der begründet behauptet, Enkel Ihres Vaters zu sein. Was wird nun passieren? Ein Szenario, hier – nicht ohne Sarkasmus – in einer römischen Familiengeschichte über drei Generationen hinweg durchgespielt. © 2018 Verlag Klaus Wagenbach, Berlin
inmal mehr dienten die Knochen des Unbekannten Soldaten dazu, die Einheit der Italiener zu beschwören. Ihr Schweigen, von Radio und Presse beinahe täglich als „heilig“erklärt, wurde über die Fratze der Uneinigkeit gelegt, um jeglichen Ausdruck zu ersticken. Die Zeremonie auf dem Denkmal für Viktor Emanuel II. hatte etwas Mystisches, das bezeugten der Duft des Weihrauchs, der aus den Räucherpfannen zu beiden Seiten der Grabstätte aufstieg, die rauchenden Kessel auf ihren Dreifüßen und vor allem die Frauen. Sie, die faschistischen Frauen, waren die Priesterinnen dieses Opferkults. Ihnen stand die Ehre zu, ihn zu begehen. Noch vor den Frauen der hohen Parteifunktionäre standen auf der Spitze der Treppenstufen in einer Reihe, schwarze Ameisen auf weißem Marmor, die Witwen und Mütter der Toten des Großen Krieges. Ihre Angehörigen waren von Granaten zerrissen, von Bajonetten durchbohrt und von
der Artillerie verstümmelt worden. Deshalb verdienten sie es, auf der Brust glänzende wertvolle Orden zu tragen wie Paolina Baracca. Neben den Frauen der Toten standen die Würdenträgerinnen der Frauenorganisationen Spalier. Die Mütter und Frauen Italiens sollten nicht länger, wie zu Zeiten des Großen Krieges, passive Zuschauerinnen sein, die später um die Gefallenen weinten. Dieses Mal war es anders. Der gesamte Volkskörper wurde nun eine Frau. Durch die Gabe des Traurings gingen die italienischen Frauen eine mystische Ehe mit dem Faschismus ein und vor allem – doch darüber redete man nicht, um die Männer nicht in Verlegenheit zu bringen – mit dem männlichsten aller Männer: dem Duce. Wie es sich für brave Vestalinnen gehört, schwiegen die Frauen. Auch in Lugo herrschte Schweigen, das wenn möglich noch tiefer wurde, als aus dem Radio die Beschreibung schallte, wie eine kleine schwarze
Gestalt die marmorne Fläche des Vittoriano in Rom betritt: die Frau der Frauen, die Regentin Italiens, Königin Elena höchstpersönlich. Auf dem Platz des Uhrturms hörte man, wie die Stimme des Sprechers sich vor Aufregung überschlug. Vor der Casa del Fascio hielten alle den Atem an. Selbst der Regen schien leiser zu fallen.
„Unsere Königin senkt das Haupt in einem Moment der Einkehr, dann hebt sie ihre weiße, handschuhlose Hand. Da, ein kleines goldenes Funkeln von zwei Ringen: ihrem eigenen und dem des Königs. Die Hand bewegt sich in Richtung des Dreifußes …“
Aus Ernani brach ein sonorer Nieser hervor, dem ein zweiter und noch ein dritter folgten. Der Bahnhofsvorsteher sah sich entschuldigend um, doch in diesem Moment der Spannung gab es nichts anderes als die Stimme aus dem Radio. Nur Viola warf ihm einen Blick zu, ausdrucksloser als eine Wand. Sie hatte Tausende, kaum wahrnehmbare und für Außenstehende unsichtbare Arten, ihm die Enttäuschung zu zeigen, die jede seiner Regungen in ihr auslöste. So auch dieses Mal: Mit einer leichten Drehung des Körpers und ungeachtet der Schulter, die nun dem Regen preisgegeben war, wandte sie sich von Ernani ab.
„ …ist es so weit! Die Ringe sind mit einem einzigen Klingen in dem metallenen Gefäß verschwunden. Der Akt, mit dem die Königin den italienischen Frauen am Tag des Traurings vorangeht, ist vollbracht. Kein Geräusch stört die überwältigende Schönheit, die religiöse Würde, die mystische Ergriffenheit dieses Moments.“
Applaus stieg über Piazza Venezia auf und über allen anderen Plätzen Italiens, auf denen die Worte aus den Lautsprechern klangen. Das ganze Vaterland war in diesem Moment eine Frau, wie seine Königin.
Als die Berichterstattung vom Denkmal des Unbekannten Soldaten endete, begann die Sammlung im restlichen Land. In Lugo war nach einem unabänderlichen Naturgesetz wiederum Paolina Baracca die Erste, die ihre Schmuckstücke spendete.
Broschen, Gold- und Silbermünzen, Besteck, Bilderrahmen. Großzügig entledigte sich die Gräfin ihrer Besitztümer. Natürlich passten sie nicht alle in den Kessel; nachdem eines nach dem anderen der Menge präsentiert worden war, wurde der Sack, in dem sie sich befanden, dem Sektionssekretär höchstpersönlich übergeben. Nur der Trauring, den sich Paolina unter dem zustimmend freundlichen Blick ihres stilbewussten Mannes gezogen hatte, fiel mit einem leichten Klimpern in den noch leeren Kessel. Alle dachten, dass die Mutter des Helden damit genug zu der imperialen Kraftanstrengung beigetragen hätte, sowohl was die Quantität als auch was ihre Vorbildrolle anbelangte, und nun die Reihe an den anderen Ehefrauen der Stadt wäre. Doch die Gräfin machte keine Anstalten, das Podest zu verlassen. Mit beseeltem Blick hob sie die Hand zu ihrer Brust und löste mit einem kleinen Ruck die Nadel, mit dem der goldene Orden ihres Heldensohnes an dem schwarzen Kleid steckte. Ein Zittern durchlief die Menge unter den Schirmen. Eine Frau in erster Reihe stieß einen leisen Schrei aus. Andere bissen sich auf die Lippen, um nicht aufzustöhnen, nein, dieses höchste, letzte Opfer musste nicht sein! Doch, es musste. Zumindest hatte Paolina das so entschieden. Vor dem ganzen Ort hielt sie den goldenen Orden für Verdienste in der Armee von Francesco Baracca über den Kessel. Es folgte ein Moment höchster Anspannung, nicht weniger aufgeladen als in Rom, während Königin Elena auf dem Denkmal die beiden Eheringe zwischen den Fingern hochgehalten hatte. In diesem schicksalhaften Augenblick zeigte Paolinas Gesicht, wie laut Radiobericht dasjenige der Regentin, keinerlei Gefühlsregung. Und ebenso wenig das ihres Mannes Enrico, was daran liegen mochte, dass er sich gerade den Hut zurechtschob. Der Goldorden fiel mit einem feinen metallischen Klirren auf den Boden des Behältnisses, das viele, so wurde in den Folgejahren beteuert, gehört haben wollten. Dann erst stieg die Gräfin von dem Podest, gefolgt von ihrem Mann, der zufrieden in die Menge lächelte wie einer, dessen Leben nach Wunsch verläuft. Die Frauen von Lugo hielten noch einen Moment ehrerbietig inne, dann traten sie unter den ausdruckslosen Blicken ihrer Männer nach und nach vor. Nun war die Reihe an ihnen.
Ein paar Tage vor der Zeremonie war ein Kommuniqué verbreitet worden. Neben jedem Spendentisch, hieß es, stünde ein Goldschmied, der kontrollieren würde, ob jemand Ringe aus falschem Gold in den Tiegel warf. Doch nun war dort unter den Wimpeln und Trikoloren niemand, der mit fachmännischem Blick die Gabe abwog. Auch die Parteispitzen warfen nur einen oberflächlichen Blick auf die abgelegten Ringe. Dieses zur Schau gestellte Desinteresse fiel nicht allen leicht.