Augsburger Allgemeine (Ausgabe Stadt)
Francesca Melandri: Alle, außer mir (156)
MStellen Sie sich vor: Eines Tages steht vor Ihrer Tür ein junger, dunkel häutiger Flüchtling, der begründet behauptet, Enkel Ihres Vaters zu sein. Was wird nun passieren? Ein Szenario, hier – nicht ohne Sarkasmus – in einer römischen Familiengeschichte über drei Generationen hinweg durchgespielt. © 2018 Verlag Klaus Wagenbach, Berlin
anch ein Schwarzhemd-kommandeur hätte nur zu gern denjenigen eine Lektion erteilt, die es wagten, einen unechten Ring in den Kessel zu werfen; die es sich leisten konnten, extra zu diesem Zweck einen zweiten Ring zu kaufen; die einen Juwelier gefunden hatten, der ihnen einen minderwertigen Silberring vergoldet hatte; die sich einen Eisenring an den Finger gesteckt hatten, um so zu tun, als gäben sie den Ehering, der in Wirklichkeit zu Hause in einer Schmuckschatulle lag; kurz all jenen, die das Regime zum Besten hielten. Aus Rom aber war die strikte Order an die lokalen Parteisekretäre und -funktionäre ergangen, solche Vorkommnisse nicht zu ahnden. Folglich wurde der auf frischer Tat ertappte Juwelier, der zweihundert Eheringe fälschte, nicht strafrechtlich belangt, wie auch sein Kollege aus Padua nicht, der Eisenringe verkaufte, die denen ähnlich waren, die zum Tausch am Tag der Zeremonie ausgegeben wurden. Tatsächlich
war das eigentliche Ziel der Zeremonie nicht der Realwert des gespendeten Schmucks. Natürlich stand es nicht in den Zeitungen, doch dieses Gold war eine Lappalie gegenüber den wahren Kriegskosten in Abessinien. Doch was hier eingesammelt wurde, war viel kostbarer: die allgemeine Zustimmung. Deshalb wurden Betrügereien ignoriert. Denn nähme man die Schuldigen fest, würde nur offensichtlich, dass nicht alle Herzen ausschließlich für Faschismus und Vaterland schlugen. Dass manch einer den Duce nicht lieben, sondern betrügen wollte. Nein, da drückte man lieber ein Auge zu. Den freiwilligen Verteidigern des Faschismus wurde gesagt, dass Rizinusöl und Schlagstöcke für andere Gelegenheiten gut waren.
Auch Ernani schmerzte die Vorstellung, dass Viola sich von dem feinen Goldschmiedeprodukt trennen wollte, das die Schönheit der Braut bezeugte, in die er verliebt war. Ein paar Wochen vor dem großen Tag des Rings hatte er vor dem sonntäglichen Rindfleisch gesessen und seiner Frau einen Vorschlag gemacht.
Er würde einen anderen Ring von gleichem Wert kaufen – das konnte er sich mittlerweile leisten, ohne an seine Ersparnisse zu gehen –, den sie abgeben würden. Otello, der zum wöchentlichen Familienessen nach Hause gekommen war, hatte seine Zustimmung zu der Idee erklärt. Dem Vaterland war es egal, so sagte er, wie der Ring aussah; was zählte, waren die Karat.
Viola hatte den Blick von ihrem Teller gehoben, auf dem sie gerade das Fleisch zerteilte, hatte in furchtbarer Langsamkeit Messer und Gabel aus der Hand gelegt und dann ihrem Mann einen Blick zugeworfen, als sei er ein Verräter. Dann sprach sie mit monotoner und düsterer Stimme wie die Sibylle von Cumae.
„Du willst also mit minderwertigem Gold die Waffen bezahlen, die dein Sohn tragen wird.“
„Nein, nein, wie gesagt, ich kaufe einen Ring mit dem gleichen Goldgehalt von exakt 18 Karat. Oder auch mehr, wenn du möchtest. Es wäre nicht minderwertig.“
Da sagte Viola das, von dem Ernani immer gewusst hatte, dass sie es dachte, da sie es ihm seit zwanzig Jahren durch ihre Verweigerung und Enttäuschung mitteilte: „Doch, das ist es. Genau wie du.“
Niemand kontrollierte also vor der Casa del Fascio die Trauringe. Schon bald war Viola Profeti an der Reihe, schließlich war sie die Frau des Stationsvorstehers, Schlüsselfigur in der Dorfgemeinschaft nach dem Bürgermeister, den örtlichen Honoratioren, dem Doktor, dem Apotheker und dem Chef der Carabinieri. Alle sahen, wie sie sich den echten Trauring vom Finger zog und wie eine Erkennungsmarke über den Kessel hielt. Einen Moment lang fühlte sich die Frau des Bahnhofsvorstehers gleichrangig mit einer Königin, mit der Gräfin Baracca, mit all den Frauen, die ihre Männer liebten und ein glückliches Leben führten. Dann, mit einem leichten Klimpern, fiel der Ring in den Kessel. Der Sektionssekretär steckte ihr den Eisenring an den Finger, und Viola Profeti ehelichte mit verklärter Miene ihren Duce.
Auf dem Nachhauseweg musterte Ernani heimlich das Gesicht seiner Frau. Sie hatte die Augen weit aufgerissen und starrte mit fast fiebrigem Blick vor sich hin. Sofort vergaß Ernani die Anstrengung, mit der er sich den ganzen Vormittag im Regen auf den Beinen gehalten hatte, und machte sich Sorgen um sie. War Viola krank? Sie war aber auch völlig durchnässt, das tat ihr bestimmt nicht gut. Und wie schön sie war, so ernst und blass, die jung gebliebene Haut straff über den eleganten Zügen, aber auch zerbrechlich und einsam. Wenn die letzten zwanzig Jahre zwischen ihnen anders verlaufen wären, wenn es nicht diese unsichtbare Mauer in ihrem Ehebett gegeben hätte, wenn die Enttäuschung und Bitterkeit nicht immer in ihrer Stimme mitschwingen würden, sobald sie mit ihm sprach, dann hätte er ihr jetzt auf dem Weg zum Bahnhof seinen schützenden Arm um die Schultern gelegt. Hätte sie an sich gezogen, ihr süße Dinge ins Ohr geflüstert. Hätte ihr gesagt, dass seine Liebe nach zwanzig Jahren noch dieselbe war wie am ersten Tag. Doch er tat nichts von alldem. Er senkte nur den Schirm ein wenig und passte sich ihren Schritten an.
Viola schien die Gefühle, die ihn durchströmten, nicht zu bemerken. Ungerührt lief sie vor sich hin. Ernani hingegen durchzuckte beim Anblick ihres Gesichts eine jähe Erkenntnis: Um diese so geliebte und unglückliche Frau zu retten, wäre er bereit zu sterben. Ein einfacher Gedanke, wie alles Unausweichliche, und Ernani hatte das Gefühl einer Weissagung. Die es auch war, wenngleich umgekehrt.
Viola war in Gedanken bei ihrem Goldring, der zu den anderen in den
Tiegel gefallen war. Sie stellte sich vor, wie er zerfloss, verschmolz und ein in der Sonne glitzerndes Gewehr wurde. Das Gewehr ihres Sohnes Attilio, das er umgehängt hatte, während er beim Einsteigen in den Zug eine Träne wegwischte und zu ihr sagte: „Weine nicht, Mamma, ich komme zurück. Ich komme immer zurück.“
Attilio Profeti lehnte in diesem Moment an der Reling der Vulcania und lauschte einer Frauenstimme, die vom Rande der Wüste über den Kanal hallte. Von den Ufern in Porto Said sang Maria Uva für ihn. Nur für ihn. Die Tropensonne brannte ihm ins Gesicht, die Meeresbrise zerzauste sein Haar, die Melodie streichelte ihn. Attilio war auf dem Weg, das Imperium zu errichten. Zusammen mit dem besten Blut Italiens war er auf dem Weg, Geschichte zu schreiben. Der Duce hatte zu ihm gesprochen – „Siegen! Und wir werden siegen!“–, und nun sprach Maria Uva mit der Stimme aller Frauen Italiens, der Mütter mit ihrer gefürchteten Liebe, der Bräute, die ihre Trauringe gaben, der unnahbaren Jungmädchen in ihren weißen Blusen, der Zimmerwirtin mit ihren warmen Armen und auch der Huren an der Straße nach Bagnacavallo, und sie wiederholte das, was er gesagt hatte.