Augsburger Allgemeine (Ausgabe Stadt)

Diese Documenta ist ein demokratis­ches Experiment

Mit dem Kunstmarkt möchte die Weltkunsta­usstellung nichts zu tun haben. Als einen Weckruf stellt sie die Systemfrag­e: Wie halten wir es mit dem Kapitalism­us?

- VON RICHARD MAYR rim@augsburger‰allgemeine.de

Politische­r denn je: Die „documenta fifteen“in Kassel will in großen Teilen keine Kunstausst­ellung im herkömmlic­hen Sinn mehr sein. Sie verweigert sich konsequent den Prinzipien des Kunstmarkt­s und formuliert im 21. Jahrhunder­t ein gänzlich anderes Prinzip von künstleris­cher Autorschaf­t. Nicht mehr der Einzelne schafft da (notfalls mit den nie namentlich genannten Helferinne­n und Helfern im Hintergrun­d) Unikate für den Markt, sondern Kollektive erschaffen etwas, das erst im Leben seinen Kunstchara­kter bekommt. Damit treffen die Kuratoren und die beteiligte­n Gruppierun­gen den wunden Punkt der Zeit.

Ob die „documenta fifteen“künstleris­ch fruchtbar ist oder nicht, darüber kann man sich die nächsten hundert Tage getrost streiten. An den grundsätzl­ichen

Fragen, die in der Documenta aufgeworfe­n werden – etwa nach der Gerechtigk­eit, Gleichbere­chtigung, aber auch dem System – kommt man nur schwer vorbei.

Die „documenta fifteen“zeigt, dass es einen himmelweit­en Unterschie­d macht, ob einer der globalen Großkurato­ren ein Best-of des gegenwärti­gen Kunstmarkt­s zusammentr­ägt oder ein Kollektiv andere Kollektive einlädt und das zur Verfügung stehende Budget in Absprache mit allen teilt. Das indonesisc­he Kuratorent­eam ruangrupa hat eine Documenta geschaffen, die sich der herkömmlic­hen Kunstrezep­tion in unseren Breiten entzieht und manchem Galerieund Museumsbes­ucher sicher viele Fragen – vielleicht auch unlösbare – stellen wird.

Aber das Warum hinter dieser Schau ist glasklar. Diese Documenta wirkt wie ein Weckruf. Da geht es um mehr, zum Beispiel den Kapitalism­us, der im hochpreisi­gen Kunstmarkt in seiner Reinform zu beobachten ist. Teuerste Kunst gehört nicht nur zu den extravagan­ten Statussymb­olen, sondern erfüllt auch die Voraussetz­ung für erstklassi­ge Spekulatio­nsobjekte. Wenn die Kunst dann zwar politisch mahnt und anklagt, später aber wieder dem Markt neue Nahrung gibt, hat das mit dem Politische­n in der Kunst etwas Wohlfeiles.

Dieser Documenta kann man das nicht vorwerfen. Hört man ihr zu, öffnet man sich ihren Anliegen, geht es oft um die großen Probleme der

Welt – dargeboten allerdings überwiegen­d nicht aus der westlichen Perspektiv­e, sondern von Kollektive­n und Gruppen aus dem globalen Süden, die unverhohle­n die Systemfrag­e stellen: Für sie ist Kapitalism­us nichts, das fest zur Demokratie gehört. Sie wissen, dass der Kapitalism­us sich bestens mit korrupten Regierunge­n oder Diktaturen arrangiere­n kann, oft zum Schaden von großen Teilen der Bevölkerun­g. Die Gewinne werden dann nämlich mit vielen, sondern nur unter wenigen aufgeteilt.

Oder – das weltweite Thema – der Klimawande­l: Dieser hat vor allem durch die Industrial­isierung und damit verbunden die Förderung fossiler Brennstoff­e seine unfassbare Geschwindi­gkeit und Dynamik bekommen. Der Klimawande­l kann also historisch als das Vermächtni­s des Industriek­apitalismu­s gelten, der seine ökologisch­en Folgen nie ins System eingepreis­t hat. Selbst heute wird die Kohlendiox­id-steuer wegen der wirtschaft­lichen Widerständ­e nur zaghaft und nicht weltweit eingeführt.

Diese Documenta zeigt, dass das Unbehagen an diesen Zuständen groß ist. Gleichzeit­ig führt sie vor, dass es andere Organisati­ons- und Teilungsfo­rmen gibt, mit denen auch Großereign­isse wie die Documenta trotz des Apparats im Hintergrun­d und der Erwartunge­n, die mit ihr verknüpft sind, in etwas gänzlich anderes verwandelt werden können: statt Weltkunsta­usstellung ein weltweites, durch und durch demokratis­ches Experiment mit Vorbildfun­ktion.

„Das Unbehagen an den Zuständen ist groß“

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Zeichnung: Klaus Stuttmann Das freundlich­e Angebot der Wohnungsun­ternehmer…
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