Augsburger Allgemeine (Ausgabe Stadt)
Alle Kunst zum Wohl des Menschen!
In diesem Jahr hängt die Wertung der Weltkunstausstellung in besonderem Maß davon ab, was der einzelne Gast erwartet. Auf jeden Fall aber findet das Publikum Horizonterweiterung. Joseph Beuys steht dabei Pate.
Die „documenta fifteen“entstand in der Zusammenarbeit vieler Kollektive. Spuren des Prozesses zur Ausstellung sind zum Beispiel im Fridericianum zu sehen (rechtes Bild). In der Documentahalle zitiert das Künstlerzentrum Britto Art Trust aus Bangladesch mit seinem Supermarkt Andy Warhol mit den Campbell’sdosen. In der Karlsaue präsentiert der Künstler Takashi Kuribayashi seine Kräutersauna.
Zum Beispiel Ausstellungsort Fridericianum. Im Herzstück auch dieser „documenta fifteen“schweben stanniolglänzende Jahrmarkt-ballons, darunter ein Schweinchenkopf, darunter Herzen. Festgebunden sind sie an einem auf dem Boden liegenden, signierten Urinal. Quasi: oben hui, unten pfui. Oben wird auf die bunt spiegelnden Markenzeichen-plastiken von Jeff Koons angespielt, unten auf Marcel Duchamps frühes Ready-made. Die ironisch kurzgeschlossene Kombination zweier Großkünstler stammt von dem 1953 in Australien geborenen Richard Bell, und er verweist damit auch auf eine epochale Wendung in der Kunstgeschichte. Merke: Mit dem Urinal erfuhr der Kunstbegriff eine beträchtliche Weiterung.
Zum Beispiel Ausstellungsort Documenta-halle. In ihrem unteren Bereich ist von dem Künstlerzentrum „Britto Art Trust“(Bangladesch) ein Supermarkt aufgebaut. Darunter Kisten voller Obst, Gemüse, auch Konserven, etwa Suppendosen von Campbell’s. Nur: Keines der Produkte ist echt, alles Fake, viele Fehlfarben. Die Bananen sind weiß und aus Keramik, die Milchtüten aus Metall, die Suppendosen aus ausgestopftem festen Stoff. Schon einmal war Campbell’s das Objekt künstlerischer Auseinandersetzung, Stichwort Andy Warhol. Merke: populärer, dem Bedarf der Menschen noch näher stehend, ging’s kaum.
Zum Beispiel Friedrichsplatz vor dem Fridericianum. Blick zurück. Die ersten zwei der 7000 Eichen, die Beuys ab 1982, Documenta 7, pflanzen ließ („Stadtverwaldung statt Stadtverwaltung“), spenden heute, nach 40 Jahren, Schatten, Kühle. Neuerlich hatte sich mit Beuys der Kunstbegriff erweitert. Und: Die Kunst wurde grün, initiativ, sie wuchs und gedieh auch zum Wohl des Menschen. Merke: Kunst und Lebensgrundlagen wurden eins. Nimmt man nun noch zu diesen drei Beispielen die Forderung des futuristischen russischen Literaten Serge Tretjakow hinzu, wonach Künstler auch die Realität zu gestalten haben, indem sie konstruktiv am (Arbeits-)leben und Bildungswesen mitwirken sollen, dann hat man vier wesentliche Punkte in jenem Koordinatensystem, das die „documenta fifteen“maßgeblich prägt: schreitend zu einer neuerlichen Weitung des Kunstbegriffs, dem Bedarf der Menschen nahestehend, Lebensgrundlagen erhaltend, kon
Bildung vermittelnd. Im Vorfeld der offiziellen, auch staatstragenden Eröffnung an diesem Samstag sprach Claudia Roth, die noch immer junge Kultur-staatsministerin, sogar von einer auflösenden Form von Kunst…
Nun sieht die Documenta im Zuge von Begriffserweiterung, Inhaltsverschiebung, Umgewichtung, gar Kunstauflösung, eben so aus, wie es beabsichtigt ist: ein Leitbild. Es mangelt nicht an Sitzgruppen, Regalen, Illustrationsmaterial, Screens. „Make friends not art!“heißt der letzte Satz des Katalogvorworts vom verantwortlichen indonesischen ruangrupa-künstlerteam. Kollektive, Initiativen, Projekte, NGOS, Aktivisten stellen ihr regionales/nationales Engagement, ihre
ihre Visionen dar. Das Wort „Begegnung“fällt allenthalben. Die großen, wiederkehrenden, meist tatsächlich drängenden Themen sind appellativ: Ökologie, (verfeinerte Arten von) Kolonialismus, Diskriminierung ethnischer Gruppen, Hilfe für Geflüchtete, Unterstützung von Essenstafelteilnehmern, Unabhängigkeits-, Meinungsfreiheit-kämpfe.
Der zweite erwünschte Schritt, nach der Begegnung, ist gewichtiger: Diskussionsrunden, Workshops sollen für die Verbreitung des laufenden Engagements sorgen. Schneeballprinzip, ins Positive gewendet. Damit ist diese Documenta dezidiert eine Documenta der Botschaft, der Unterrichtung, der Streuung humaner Gedanken. Keistruktiv
Eine künstlerische Überraschung der Documenta: die Polin Malgorzata Mirgatas, deren Werke auch auf der Biennale in Venedig zu sehen sind.
An der Wand im Hintergrund eine Zeichnung der kubanischen Künstlerin Raychel Carrion in der Documentahalle. ne Frage: Das alles ist nicht nur ehrenwert, vorbildlich, unterstützungswürdig, sondern auch notwendig und damit in einem besonderen Sinn korrekt. Ein vielstimmiger Markt der Möglichkeiten zu helfen. Die Kunst, die dabei auch entstehen kann, ist so „angewandt“wie die 7000 Beuys-eichen im Status ihrer Pflanzung. Nun kommt es aufs Austreiben an und auf die kleinen Eicheln.
Vorerst jedoch herrschen in ästhetischer Hinsicht guter Wille, oft genug Plakativität vor. Die künstlerische Wertung der Documenta hängt 2022 in besonderer Weise von der Erwartungshaltung jedes einzelnen Gastes ab. Für sozial Engagierte, die wir ja alle jedenfalls sein sollten, und für Soziologen, deren Spraverantwortung, che fleißig gepflegt wird, ist die D15 zumindest in der Innenstadt von Kassel ein fruchtbares Feld. Für Freunde der Kunst, zumal der stark autonomen, weit weniger. Die Erfahrung weiß: Der Documenta darf durchaus der Lorbeer des Progressiven aufgesetzt werden. Das Progressive 2022 besteht, aufbauend auf Beuys, in den offensichtlich notwendigen multiperspektivischen Fingerzeigen, wie wichtig Bildung, Wissen, Hilfe zur Selbsthilfe sind.
Zu einem einstelligen Prozentsatz zeigt ruangrupa dann aber doch auch Kunst von Werkcharakter, einschließlich Kunstmarkt-relevanz sogar. Wobei dieses Zugeständnis wohl insofern leichter fiel, als die Objekte in der Regel nicht eigens in Auftrag gegeben worden waren
Oben hui und unten pfui. Der australische Künstler Richard Bell bringt Marcel Du champs Urinal mit Ballons zusammen, die an Jeff Koons erinnern. (wie bislang ja Usus) und die entsprechenden Kunstschaffenden aus Eigeninteresse und Eigenverpflichtung den Idealen dieser Weltkunstausstellung 2022 nahestehen. Viele dieser Ideale hat der Rumäne Dan Perjovschi auf den schwarz grundierten Säulenvorbau des Fridericianums geschrieben: Humanität, Unabhängigkeit, Transparenz, Vertrauen, Großzügigkeit, Frieden … Halt alles, was regelmäßig unter die Räder und den rollenden Rubel zu geraten droht.
Weitere Äußerungen in diesem Sinn: die hochrespektierte deutsche Filmemacherin Hito Steyerl, die für die 2009 in Spanien gegründete Para-institution „Inland“den Film „Animal Spirits“drehte – darin sarkastisch auch „Disney-ökologie“, die Mühen der Ziegenzucht und der Wert von Ziegenkäse einerseits, Bitcoins andererseits betrachtet werden (Naturkundemuseum im Ottoneum); dazu der ehemalige, 2021 gestorbene Us-amerikanische Aktivist und Konzeptkünstler Jimmie Durham, von dem im Kulturbahnhof letzte Arbeiten gezeigt werden, darunter ein abgeformter und in Bronze gegossener Schildkrötenschädel.
Und in der Documenta-halle hat die mit dem Arnold-bode-preis 2022 ausgezeichnete Tania Bruguera für das kubanische, sich der Kunst, der Bildung und dem politischen Engagement widmende Kollektiv INSTAR drei Räume mitkuratiert, in denen dokumentarische, kämpferische Zeichnungen von Raychel Carrion in exquisiter Schraffur-technik beeindrucken.
Schließlich sind im Halbrund des Fridericianums der bereits erwähnte Richard Bell mit neuen, plakativen Acrylgemälden im Einsatz für die Rechte der Aborigines zu sehen (neben dem Aufbau seines reisenden Dokumentar-kinozelts auf dem Friedrichsplatz) sowie, Überraschung, die polnische Künstlerin Malgorzata Mirga-tas, die der Unterdrückung der Roma mit lebensfreundlichen Alltagsszenen auf Textilwandteppichen begegnet. Sie scheint die Einzige von Rang zu sein, die dieses Jahr ins Auge springt, weil sie sowohl auf der Documenta als auch auf der venezianischen Biennale (polnischer Pavillon) wirkungsvoll vertreten ist.
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Ausstellung Die „documenta fifteen“findet bis zum 25. September in Kassel statt. Die regulären Öffnungszeiten sind 10 bis 20 Uhr, Veranstaltungszeiten können abweichen. Es empfiehlt sich vorab ein Blick in das umfangreiche Programm der Documenta.