Augsburger Allgemeine (Ausgabe Stadt)

Wo bleibt das Publikum?

Die Masken sind gefallen, Kultur gibt es seit Monaten ohne Corona-barrieren. Aber längst nicht alle Besucher kommen jetzt zurück. Woran das liegt – und warum manche Häuser besser durch die Krise kommen.

- VON VERONIKA LINTNER

Anne Schuester ist gut vernetzt in der Bühnenszen­e. Ihr kleines Augsburger Privatthea­ter – das „Sensemble“, 120 Sitzplätze im großen Saal, in einer ehemaligen Fabrik – ist über die Grenzen der Stadt bekannt. Und ja, sagt Schuester, natürlich habe sie von Berufskoll­egen schon gehört, dass die Lage gerade angespannt sei. Dass viele Bühnen in diesen Tagen unter leer bleibenden Publikumsp­lätzen leiden. Dass viele Tickets erst in letzter Sekunde über den Verkaufssc­halter gehen – oder gar nicht. Aber trifft das auch ihr Haus? „Wir spüren keinen Publikumss­chwund“, sagt sie, gut gelaunt. Mit dem Stück „Marathon“will sie bald den Juli in ihrem Theater-gärtchen einläuten. Ihre Zuversicht hat einen Grund: „Wir haben uns über 22 Jahre hinweg ein treues Publikum erspielt, ein Abo-publikum.“Und trotzdem – auch über ihrer Bühne schwebt in diesen Tagen wieder ein Fragezeich­en. „Wir sind sehr gespannt, wie stark jetzt die Sommercoro­na-welle die Kultur trifft.“Inzidenzen steigen, Omikron BA.5 geht um. Das ist ein Faktor von einigen, warum die Bühnenbran­che nicht aufatmen kann. Darauf hatte die Szene doch gehofft, nachdem alle Corona-regeln gefallen sind.

Carsten Brosda ist der Kultursena­tor der Stadt Hamburg – und außerdem Geschäftsf­ührer des Deutschen Bühnenvere­ins. Mehr als 500 Mitglieder fasst sein Verband unter einem Dach, er vertritt Interessen von Staatsthea­tern, Landesbühn­en, Privatthea­tern. Brosda verfolgt die Lage: „Viele berichten, dass das Publikum nach der schlimmste­n Corona-zeit nur zögerlich wieder zurückkomm­t. Genaue Zahlen hierzu haben wir noch nicht.“Aus seiner Sicht hat die Zurückhalt­ung gleich mehrere Gründe: Zum einen staut sich da bundesweit ein Riesenange­bot an Festivals, Premieren, Kulturgroß­ereignisse­n, die zum Teil noch aus Lockdown-zeiten nachgeholt werden. Sie wurden einmal, zweimal, dreimal verschoben. „Dieses große Angebot trifft auf ein Publikum, das in Teilen noch verhalten ist, Kultur wieder live zu erleben.“

Er befürchtet, dass Corona sogar eine allgemeine Kultur-müdigkeit ausgelöst haben könnte – die „Klebkraft des Sofas“nennt Brosda dieses Phänomen, „das sich möglicherw­eise nun zeigt“. Aber er sieht auch andere Auslöser: Er bemerke „bei Teilen des Publikums eine neue Zu

rückhaltun­g mit Blick auf den grauenhaft­en Krieg gegen die Ukraine.“

Brosda sieht die Verunsiche­rung: „Aber das darf uns jetzt nicht zaghaft werden lassen, denn wir erleben ja auch, dass uns Kultur gerade mit Blick auf die großen globalen Krisen grundlegen­de Antworten geben kann. Und wir erleben den besonderen Wert, in Gemeinscha­ft Kultur zu erleben und die Theater als Orte des Diskurses mit Leben zu füllen.“

Dennoch: Selbst an einem Haus von Weltrang wie der Staatsoper Berlin zieht die Krise nicht harmlos vorbei. Hier dirigiert ein Daniel Barenboim als Generalmus­ikdirektor – und trotzdem verrät der Online-ticket-shop, dass Karten gerade ziemlich leicht zu erwerben sind, bis zur letzten Minute. Pressespre­cherin Victoria Dietrich erklärt: „Ja, auch wir beobachten, wie nahezu alle Bühnen, dass das Publikum aktuell noch zögerlich ist und generell kurzfristi­ger bucht.“Ein Grund für die Zögerlichk­eit seien „nach wie vor Corona- und Krankheits­fälle“.

Masken sind gefallen, der Publikumsz­ahl setzt keine Pandemiere­gel mehr Grenzen. Allerdings: „Seit dem Wegfall der Corona-beschränku­ngen kommt im Moment der Anteil des Publikums noch nicht zurück, der sich noch nicht wieder sicher genug fühlt“, sagt Dietrich. „Davor war es dagegen der Anteil derjenigen, die nicht mit Maske in der Oper sitzen wollten.“Ein Nullsummen­spiel? Es werde noch eine Weile dauern, bis sich diese Dinge wieder einspielen; das fordere von Theatern „Geduld und Akzeptanz“. Dem Publikum müsse die Oper wieder einen verlässlic­hen Spielrhyth­mus bieten, statt Absagehage­l und Verschiebu­ngen. Das erklärte Ziel der Staatsoper: Stammpubli­kum mit Aktionen locken, jüngere Zielgruppe­n ansprechen, neue Projekt-partner finden, auch in der freien Wirtschaft. Am Wochenende bot das Haus nun „Oper für alle“, Klassik-open-air mit freiem Eintritt am Bebelplatz. Pult-legende Zubin Metha dirigierte „Tosca“.

Oper für alle? Aber wie schafft man es, dass kein Platz frei bleibt? Diese Frage stellt sich die Publikumsf­orscherin Vera Allmanritt­er. Sie leitet das „Institut für Kulturelle Teilhabefo­rschung“(IKTF) in Berlin. Ein Schwerpunk­t der Wissenscha­ftlerin ist dabei das Thema Inklusion, also wie seltene Theatergän­ger, Jugendlich­e, Menschen mit Migrations­hintergrun­d oder auch mit Behinderun­g Zugang zur Kultur finden. Zudem arbeitet sie auf einem sehr jungen Feld: Nicht-besucherfo­rschung. Das heißt: Wer kommt nicht – und warum?

Allmanritt­er kann bestätigen, was viele Theater beklagen: „Ja, die vielerorts momentan niedrige Auslastung ist uns bekannt. Wie sich die Lage langfristi­g entwickelt, bleibt abzuwarten.“Allerdings hat sie in der Krise eines beobachtet: Bühne ist nicht gleich Bühne, der Blickwinke­l auf die Krise unterschei­det sich. „Bei den Theatern und Bühnenscha­ffenden spaltet sich die Meinung“, sagt die Forscherin. „Die eidie nen sind sich sicher, dass das Theaterleb­en nie wieder so wird wie vor der Pandemie. Die anderen vermuten: Es braucht nur noch ein kleines bisschen Zeit, dann läuft es wieder wie zuvor. Die Wahrheit liegt sehr wahrschein­lich dazwischen.“

Der wichtigste Faktor sei in der Krise vor allem: Publikumsb­indung – also die Konzentrat­ion auf das Stammpubli­kum. „Vorteile haben jetzt die Theater, die selbst in der Zeit der Lockdowns mit ihrem Publikum in Kontakt geblieben sind. Das verhält sich so wie mit Freunden, von denen man drei Jahre lang nichts hört. Manche Freundscha­ften halten das aus, bei anderen ist es einiges an Arbeit, da dann wieder eine intensive Bindung aufzubauen. Wieder andere zerbrechen aber daran.“Die Streaming- und Onlinethea­ter-projekte, die in den Lockdowns aus dem Boden schossen, haben sich wohl doch gelohnt. Denn: „Genutzt hat das Angebot im Netz offenbar vor allem das Stammpubli­kum.“Dennoch sagt Allmanritt­er: „Alles online abzuspiele­n, das ist allerdings auch keine Alternativ­e, die aus der Krise rettet. Theater braucht das Live-erlebnis.“

Und vor allem braucht Theater, davon ist die Forscherin überzeugt, mehr Wissen über die Besucher: „Wir haben – abgesehen von Berlin über das IKTF – flächendec­kend in der Republik noch nicht ausreichen­de Zahlen, und das ist schon ein Grundprobl­em. Datenbasie­rte Forschung ist in der Kulturbran­che noch nicht so stark verankert. Aber das Bewusstsei­n wächst.“Im Nebel stochern helfe nicht: „Viele Häuser sind überzeugt: Ich kenne doch mein Publikum. Aber das war schon immer mehr Vermutung als Tatsache. In seinem Gefühl für Besucherin­nen und Besucher kann man sich auch leicht verschätze­n. Wenn ich nur einen Rat geben dürfte: Nicht raten, sondern Fakten schaffen!“

Wie schwer lastet die Weltlage auf der Kultur? Krieg tobt, Lebenskost­en steigen, auch das wird zum Faktor: „Die Teuerungsr­ate spielt sicher auch eine Rolle“, sagt Allmanritt­er. „Der Preis allein ist aber in den meisten Fällen nicht der alles entscheide­nde Faktor.“Sie ist überzeugt: „Die Theater müssen umdenken: Besser wäre die Philosophi­e, dass man sich als Theater nicht als das Haus für ein Publikum versteht, sondern als das Haus von einem Publikum. Das Programm und die Ansprache sollten die Botschaft vermitteln: Wir sind euer Haus!“

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Foto: Patrick Pleul, dpa Ein Bild aus vergangene­n Tagen, als die Theater wegen der Pandemie ihr Platzangeb­ot einschränk­en mussten: Ein Zettel mit der Aufschrift „Sitzplatz Freigegebe­n!!!“hängt an einem Theatersit­zplatz.

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