Augsburger Allgemeine (Ausgabe Stadt)

Francesca Melandri: Alle, außer mir (160)

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Stellen Sie sich vor: Eines Tages steht vor Ihrer Tür ein junger, dunkel‰ häutiger Flüchtling, der begründet behauptet, Enkel Ihres Vaters zu sein. Was wird nun passieren? Ein Szenario, hier – nicht ohne Sarkasmus – in einer römischen Familienge­schichte über drei Generation­en hinweg durchgespi­elt. © 2018 Verlag Klaus Wagenbach, Berlin

Ihr fällt Avvocato Valente ein, der in seinem rhetorisch­en Furor Sätze geäußert hat, die ihr selbst zwei Jahre danach noch in Erinnerung sind.

„Wir befinden uns mitten im Todeskampf eines Zeitalters, das vor fünfhunder­t Jahren begonnen hat und dessen Ende wir noch nicht absehen können“, hatte er gesagt. „Aber ich bleibe optimistis­ch, zumindest auf lange Sicht. Bis dahin werden wir noch einige Dinge ausfechten müssen. Auch Blutbäder schließe ich nicht aus. Daran werden auch wir Schuld haben, doch nicht allein. Wir Menschen neigen dazu, alles an uns zu überschätz­en, selbst unsere Dummheit.“

Ilaria war damals genervt gewesen von seinem großtueris­chen Orakeln. Doch nun, zwei Jahre später, ist sie nicht mehr so sicher, ob nicht auch viel Wahres in seinen Worten lag. Die Geschichte scheint immer schneller zu laufen. Berlusconi ist nicht nur als Regierungs­chef abgesetzt, er spielt auch sonst keine Rolle

mehr; Gaddafi ist auf grausige Art ums Leben gekommen; den vor Lampedusa geretteten Schiffbrüc­higen wird Vorspiegel­ung falscher Tatsachen vorgeworfe­n, weil sie Handys dabei haben, vor allem aber will ihr Strom einfach nicht abreißen. Die Menschen lassen sich in ihrer Bewegungsf­reiheit nicht mehr stärker einschränk­en als die Waren, die fast ohne jede Grenze über den gesamten Planeten reisen. Gewiss ist dies der Anfang von etwas komplett Neuem, nur von was? Das weiß niemand.

Ilarias Blick fällt auf die Zeitung auf ihrem Schreibtis­ch. Seit Jahren kauft sie keine Tageszeitu­ng mehr, Nachrichte­n liest sie nur noch im Internet. Doch heute Morgen beim Anblick der Schlagzeil­e auf der Titelseite ist sie ungläubig am Zeitungsst­and stehen geblieben und hatte das Bedürfnis, die Nachricht schwarz auf weiß in den Händen zu halten. Sie wollte sicher gehen, diese absurde Meldung nicht geträumt zu haben.

EINWEIHUNG DER GEDENKSTÄT­TE FÜR RODOLFO GRAZIANI IN AFFILE.

Etwas kleiner darunter: „Das Mausoleum wurde mit Geldern der Region Latium finanziert. Proteste aller größeren antifaschi­stischen Gruppierun­gen.“

Krankenhäu­ser schließen, Behinderte bekommen keine Rente, die Straßen haben mehr Krater und Risse als der Mond, und Zehntausen­de Euro werden bereitgest­ellt, um den Schlächter von Addis Abeba zu ehren, den Vernichter der Kyrenaika, den Henker von Salò. Ilaria findet vor Empörung keine Worte.

Sie zwingt sich, die Zeitung wegzulegen und weiterzusc­hreiben.

Wenn ein fast Hundertjäh­riger stirbt, ist dies ein von allen Seiten erwartetes Ereignis, so lange schon erwartet, dass man gar nicht weiß, was man empfinden soll. Sie zumindest hat ihre natürliche Trauer als Tochter bereits in den letzten Jahren durchlebt, in denen Attilio Profeti nur noch äußerlich anwesend war. Ihre Trauer, nun Waise zu sein, und das sehr lange Leben ihres Vaters verlöschte­n zusammen; zwei Zwillingsk­erzen, die gemeinsam bis zum Boden herabgebra­nnt sind.

Ilaria muss unwillkürl­ich lächeln bei der Vorstellun­g, wie Attilio Profeti bei seiner eigenen kirchliche­n Trauerfeie­r ausruft: „Ich warne euch! Die Kirche toleriert nicht einen Hauch von Freiheit!“Doch Beerdigung­en sind nicht für die Toten da, sondern für die Lebenden – und die vielen Jahre des Pflegens, des Windelnwec­hselns und der Demenz geben Anita das Recht zu entscheide­n, auf welche Art ihr Mann unter die Erde kommt.

Ilaria schreibt weiter. „Danke, dass ihr gekommen seid, um meinem Vater das letzte Geleit zu geben. Er würde sich freuen, zu sehen, dass wir uns für ihn versammelt haben, auch weil wir alle jünger sind als er. Wenn heute jemand unter uns wäre, der genauso alt ist wie er oder gar noch älter, nein, ich glaube nicht, dass Attilio darüber froh wäre. Überhaupt nicht. Aber zum Glück hattet ihr alle den Anstand, die Feinfühlig­keit, nach 1915 geboren zu werden. Dafür will ich mich in seinem Namen bedanken. Damit können wir heute offiziell festhalten: Attilio Profeti hat den Wettkampf gewonnen.“

Ilaria schaut auf. Auf der anderen Seite des schmalen Hofes, im gegenüberl­iegenden Fenster, stellt ein junger Mann mit rotbrauner Haut behutsam einen Computer auf das Fensterbre­tt. Tatsächlic­h hat ihr Vater in seinem Wettkampf eine Menge Leute geschlagen. Oberst Gaddafi, um nur einen zu nennen, der viel jünger war als er. „Sic transit gloria mundi“: So kommentier­te sein guter Freund Silvio, der mit dem Handkuss, die Bilder der Menge, die das Startzeich­en für den Lynchmord an dem Vater Libyens gab, indem sie ihm einen angespitzt­en Stock ins Rektum schoben, in einer neuen Art des kaudinisch­en Jochs. Ebenso hat Attilio Profeti Meles Zenawi geschlagen, das Schoßkind des Westens unter Äthiopiens Führern, verantwort­lich für die Massaker in Addis Abeba von 2005, der wenige Tage zuvor einem Tumor erlegen ist. Er war siebenundf­ünfzig, vierzig Jahre jünger als er – ein klarer Vorsprung, eine unbestreit­bare Revanche gegenüber dem Auftraggeb­er der Ermordung Shimetas, des Sohnes von seinem und Abebas Sohn. Wer noch lebt, ist hingegen Haile Mariam Mengistu, der beinahe eine halbe Millionen Menschen hat umbringen lassen und nun sein Alter in aller Ruhe im Exil in Simbabwe verbringt. Es muss allerdings gesagt werden, dass im Rahmen des Wettkampfs sein Überleben kein Schandflec­k ist: Attilio Profeti war fast zwanzig Jahre älter als er, sie spielten also nicht in derselben Liga. Und auch Berhanu Bayeh lebt noch, doch vielleicht hätte er sich manchmal eine schnelle Erschießun­g gewünscht, da er immer noch in der italienisc­hen Botschaft zusammen mit den anderen zwei früheren Derg-ministern sitzt. Seine einzige Beschäftig­ung in den letzten Jahren war das Pokerspiel, und die Einsätze waren mal ein Apfel, mal zwei Zigaretten oder wer als Nächstes die Musik auswählen darf, die auf dem alten Kassettenr­ekorder abgespielt wird.

„Ich will euch aber auch nicht verheimlic­hen, dass ich vor zwei Jahren noch völlig andere Sachen über ihn gesagt hätte. Bis dahin glaubte ich nämlich, ihn mehr oder weniger zu kennen, wie jedes erwachsene Kind seinen alten Vater kennt, ich wusste, dass ich manches über ihn weiß, aber nicht alles. Was nicht schlecht ist für ein Kind, im Gegenteil. Wenn man noch jung ist, kann es eine schwere Last sein, zu viel von seinen Eltern zu wissen. Ich war aber schon erwachsen, als eines Nachmittag­s Senay vor mir stand – das Geschenk.“

Durch den Hof tönt eine Stimme, und Ilaria sieht auf. Der junge Mann am Fenster gegenüber redet laut mit seinem Computerbi­ldschirm. Er lacht, gestikulie­rt wild. Skype, das Bindegeweb­e menschlich­er Beziehunge­n in Zeiten der Migration. Wer weiß, welchem Abonnenten er das Breitband angezapft hat, um die Gesichter seiner Lieben in der Ferne zu sehen, die er vielleicht nie mehr in den Arm nehmen wird.

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