Augsburger Allgemeine (Ausgabe Stadt)
Plötzlich soll der Kumpel schuld sein
In Kaiserslautern beginnt der Prozess um die schockierenden Polizistenmorde bei Kusel mit einer Überraschung. Der Hauptangeklagte zeigt sich weder geständig noch schweigsam. Stattdessen lässt er seinen Verteidiger eine neue Version des Geschehens schilder
Kaiserslautern Florian V., 33 Jahre alt, Gelegenheitsarbeiter aus dem saarländischen Sulzbach, steht am Dienstag schon beizeiten im Gerichtssaal in Kaiserslautern. Etwas verloren. Er weiß nicht so genau, wo er hinschauen soll. Also schaut er oft an die Decke. Nicht groß gewachsen, untersetzt, schwarzer, kragenloser Pullover, Jeans. Er setzt sich nicht hin.
Sein Anwalt Christian Kessler, ein wuchtiger, schwarz gekleideter Mann mit der Präsenz eines Heavymetal-schlagzeugers, mit Zopf und grau-rotem Bart, ist mit der Sitzordnung nicht zufrieden. Florian V. will nicht so nah beim Hauptangeklagten Andreas S. sitzen. Kessler besteht darauf, dass ein zusätzlicher Tisch in den Saal gebracht wird, an dem sein Mandant schließlich Platz nimmt. Der Anwalt ist immer noch nicht zufrieden: Der Tisch von Florian V. ist kleiner und kürzer als der des Hauptangeklagten. Kessler schimpft: „Katzentisch“.
Das also ist der Prozessauftakt in einem Polizistenmord-fall, der bundesweit für Entsetzen sorgte. Der Hauptangeklagte ist da noch gar nicht im Saal des Landgerichts. Es ist nach 9 Uhr, als Andreas S. durch die Tür, durch die sonst nur die Richter treten, in Handschellen hereingeführt wird.
Auch Andreas S. ist nicht groß, nicht schlank, die weinrote Hose hängt unterm Bauch. Kreidebleich setzt sich der Vater von vier kleinen Kindern an seinen Tisch. Die dunklen Haare sind frisch geschnitten. Er trägt ein graues, weites Hemd und Zweitagebart. Im Verlauf des Verhandlungstags wird etwas Farbe in sein Gesicht zurückkehren – und zwar just dann, als sein Verteidiger Lars Nozar seine Version der Tatnacht vorliest.
Zunächst aber trägt Stefan Orthen 20 Minuten lang die Anklage der Staatsanwaltschaft vor. Sie beschuldigt Andreas S., am 31. Januar einen 29 Jahre alten Polizeibeamten und eine 24 Jahre alte Polizeianwärterin, beide im Saarland wohnend und auf der Wache Kusel im Südwesten von Rheinland-pfalz tätig, während einer Verkehrskontrolle beim Dörfchen Ulmet im Kreis Kusel erschossen zu haben. Aus Habgier und zur Verdeckung anderer Straftaten. Florian V. soll dem Hauptangeklagten beim Wildern geholfen und Spuren der Tat beseitigt haben.
Schon vor Wochen hatte die Staatsanwaltschaft zusammengefasst, wie die Tat nach ihren Ermittlungen
ablief. Demnach waren die jungen Beamten in jener Nacht uniformiert in einem Zivilfahrzeug im Raum Kusel unterwegs. An der nach Ulmet abfallenden Kreisstraße werden sie auf einen am Fahrbahnrand stehenden Kastenwagen aufmerksam, dessen hintere Ladetüren offenstehen. Darin: 22 erlegte Hirsche und Rehe.
Dubios erscheint den Beamten die Situation. Während der Polizist Kollegen, die in zwei Streifenwagen in der Nähe unterwegs sind, um 4.19 Uhr über Funk über das Gesehene informiert, tritt die Polizeianwärterin ans Auto heran und bittet Andreas S. um seine Papiere. Dieser händigt ihr wohl Führerschein und Personalausweis aus. Dann verlangt die junge Frau wohl den Jagdschein. Andreas S., so die Staatsanwaltschaft, sagt, er müsse den Schein aus dem Auto holen, öffnet die Fahrzeugtür, nimmt seine Schrotflinte heraus und schießt unvermittelt und aus der Nähe auf den Kopf der Polizistin. Diese sackt schwerstverletzt und ohnmächtig zu Boden.
Der Polizist, ob des Schusses aufgeschreckt, fordert sofort, um 4.20 Uhr, über Funk Hilfe an – und wird vermutlich im selben Moment von Andreas S. ins rechte Gesäß getrof
fen, durch einen Schuss aus dessen doppelläufiger Schrotflinte. Der Polizist feuert nun 14 Schuss aus seiner Dienstpistole in Richtung von Andreas S., trifft diesen – bei völliger Dunkelheit und selbst schwer getroffen – aber nicht, sondern nur dessen Auto. Derweil nimmt Andreas S. sein Jagdgewehr, eine Kipplaufbüchse, eine leichte Bergara, ein typisches Wilderergewehr, und zielt dreimal – wohl mit Nachtsichtgerät und Wärmebildkamera ausgerüstet – auf den Polizisten.
Alle drei Schüsse treffen. Einer durchschlägt Oberkörper und Arm des Beamten, der letzte Schuss trifft von hinten in seinen Kopf. Danach tritt Andreas S. den Ermittlern zufolge an die am Boden liegende Polizistin heran, um sie nach seinem Führerschein und dem Ausweis zu durchsuchen. Als er bemerkt, dass die Frau noch lebt, schießt er ihr erneut mit der Schrotflinte in den Kopf. Sie stirbt.
Dieser Tatablauf ergibt sich für die Staatsanwaltschaft aus ihren Ermittlungen, der Spurenlage, der Untersuchung der Waffen – und der Aussage von Florian V. Der hatte nach seiner Festnahme gestanden, Andreas S. in jener Nacht beim Wildern unterstützt zu haben. Er be
stritt aber, auch nur einen einzigen Schuss abgegeben zu haben. Nur aus Angst um sein Leben habe er Andreas S. geholfen, die Spuren der Tat zu beseitigen.
Nach dem Vortrag der Staatsanwaltschaft, in dem der Angeklagte Andreas S. schwer belastet wird, ist die spannende Frage an diesem Dienstagvormittag: Würde er im Gerichtssaal einen Doppelmord zugeben oder würde er – so wie in den viereinhalb Monaten der Untersuchungshaft – schweigen?
Die Antwort: weder noch. Andreas S. lässt seinen Verteidiger Lars Nozar ausführlich eine völlig andere Tatversion vortragen.
Um es kurz zu machen: In dieser Version ist Florian V. der böse, schießgeile, permanent in Geldnöten steckende Junkie, dem Andreas S. immer wieder aus der Patsche geholfen und der nun im Drogenrausch und wie aus dem Nichts die Polizistin umgelegt habe. Und er – Andreas S. – ist durch eine Aneinanderreihung unglücklicher Umstände und ohne eigenes Zutun unvermittelt in die schlimme Situation gekommen, durch Schüsse auf einen aus dem Dunkel kommenden Angreifer sein Leben retten zu müssen.
Im ersten Moment schauen die
Ankläger sowie die Anwälte der Angehörigen der erschossenen Polizisten ungläubig, als sie das hören. Christian Kessler, der Verteidiger von Florian V., zieht die Augenbrauen hoch, hebt die Arme, gestikuliert. Bald beginnen Ankläger und Anwälte zu schmunzeln, so abenteuerlich kommt ihnen die Geschichte des Hauptangeklagten vor.
Andreas S. legt in seiner Schilderung den Schluss nahe, ohne es direkt zu behaupten, dass Florian V. die Polizistin mit der Schrotflinte erschoss. Er selbst habe, im Auto sitzend, Schüsse in seine Richtung wahrgenommen, den Schützen vergeblich aufgefordert, mit dem Schießen aufzuhören und dann mit dem Gewehr in Richtung Mündungsfeuer geschossen, um nicht erschossen zu werden.
Ohne es direkt so zu formulieren, legt Andreas S. mit dieser Schilderung also nahe, dass er den 29-jährigen Polizeibeamten in einer Art Notwehrexzess ohne jede Absicht tödlich traf. Als alles vorbei gewesen sei, sei er aus dem Wagen ausgestiegen, habe die beiden Polizisten leblos vorgefunden, sei auf die Knie gesunken und habe sich bekreuzigt.
Während sein Anwalt das vorträgt, hält sich Andreas S. eine Hand über die Augen. Ob man soll, er sei den Tränen nahe?
Nach dem Geschehen jedenfalls setzen sich die beiden Männer, so die Anklage, in den weißen Renaulttransporter, der fürs Wildern umgebaut worden war, und fahren in Richtung der Wildkammer eines befreundeten Jägers in Sulzbach, in der Andreas S. regelmäßig Wild zerlegte, seit er seine eigene in einer aufgegebenen Metzgerei in Neunkirchen geschlossen hatte. Aber schon nach wenigen Kilometern bleibt das Auto stehen, im Dörfchen Erdesbach. Vermutlich haben die 14 Schüsse, die der Polizist abgeben konnte, bevor er tödlich getroffen wurde, den Wagen derart schwer beschädigt, dass er nicht mehr fährt. Die beiden Männer rufen den Besitzer der Wildkammer an. Dieser kommt und schleppt den liegen gebliebenen Renault mit dem erlegten Wild und den Männern ab nach Sulzbach, unbemerkt von der Polizei, und das, während eine Großfahndung läuft. In Sulzbach wechseln die Angeklagten ihre Kleidung, waschen sich und beginnen damit, die Beute der Nacht zu zerlegen.
Was danach geschah, darüber gehen die Versionen von Staatsanwaltschaft und Hauptangeklagtem wieder denken auseinander. Andreas S. lässt über seinen Anwalt erklären, Florian V. habe in Sulzbach die Schrotflinte überaus aufwendig und sorgfältig gereinigt und sich anschließend zur Ruhe gelegt.
Mit dieser Aussage legt Andreas S. nahe, dass Florian V. vor allem daran interessiert war, seine Spuren an der Waffe zu beseitigen, damit die Polizei ihn nicht als Mörder der Polizistin entlarvt. Derweil habe er selbst, so Andreas S., sich bei der Polizei melden und diese über die
Andreas S. soll unvermittelt geschossen haben
Das Gericht verhandelt noch an 13 weiteren Tagen
Vorgänge der Nacht informieren wollen. Allerdings habe er zuvor mit seiner Ehefrau sprechen wollen. Da er diese wiederholt telefonisch nicht erreicht habe, sei der Zugriff der Polizei erfolgt, bevor er sich habe stellen können.
Die Staatsanwaltschaft hingegen führt aus, dass Andreas S. in Sulzbach zunächst Spuren beseitigt habe, indem er die Kleidung der Nacht zusammen mit Patronenhülsen in einen Müllsack verpackt habe. Dann habe er die Waffen gesäubert und im Haus abgelegt; später das in der Nacht geschossene Wild zerlegt.
Den Jäger, der den Angeklagten als Abschlepper half, übermannte im Laufe des Tages offenbar das schlechte Gewissen oder die Angst vor Bestrafung, so die Ermittler: Via Anwältin informiert er die Polizei über den Aufenthaltsort von Andreas S. und Florian V., sodass ein Spezialeinsatzkommando die beiden am Tattag kurz vor 17 Uhr in Sulzbach festnehmen kann.
Eine brutale Tat, zwei krass voneinander abweichende Versionen über den Hergang: An den nächsten 13 Verhandlungstagen wird das Gericht den Versuch unternehmen, die Wahrheit herauszufinden.