Augsburger Allgemeine (Ausgabe Stadt)

Plötzlich soll der Kumpel schuld sein

In Kaiserslau­tern beginnt der Prozess um die schockiere­nden Polizisten­morde bei Kusel mit einer Überraschu­ng. Der Hauptangek­lagte zeigt sich weder geständig noch schweigsam. Stattdesse­n lässt er seinen Verteidige­r eine neue Version des Geschehens schilder

- VON GEORG ALTHERR

Kaiserslau­tern Florian V., 33 Jahre alt, Gelegenhei­tsarbeiter aus dem saarländis­chen Sulzbach, steht am Dienstag schon beizeiten im Gerichtssa­al in Kaiserslau­tern. Etwas verloren. Er weiß nicht so genau, wo er hinschauen soll. Also schaut er oft an die Decke. Nicht groß gewachsen, untersetzt, schwarzer, kragenlose­r Pullover, Jeans. Er setzt sich nicht hin.

Sein Anwalt Christian Kessler, ein wuchtiger, schwarz gekleidete­r Mann mit der Präsenz eines Heavymetal-schlagzeug­ers, mit Zopf und grau-rotem Bart, ist mit der Sitzordnun­g nicht zufrieden. Florian V. will nicht so nah beim Hauptangek­lagten Andreas S. sitzen. Kessler besteht darauf, dass ein zusätzlich­er Tisch in den Saal gebracht wird, an dem sein Mandant schließlic­h Platz nimmt. Der Anwalt ist immer noch nicht zufrieden: Der Tisch von Florian V. ist kleiner und kürzer als der des Hauptangek­lagten. Kessler schimpft: „Katzentisc­h“.

Das also ist der Prozessauf­takt in einem Polizisten­mord-fall, der bundesweit für Entsetzen sorgte. Der Hauptangek­lagte ist da noch gar nicht im Saal des Landgerich­ts. Es ist nach 9 Uhr, als Andreas S. durch die Tür, durch die sonst nur die Richter treten, in Handschell­en hereingefü­hrt wird.

Auch Andreas S. ist nicht groß, nicht schlank, die weinrote Hose hängt unterm Bauch. Kreideblei­ch setzt sich der Vater von vier kleinen Kindern an seinen Tisch. Die dunklen Haare sind frisch geschnitte­n. Er trägt ein graues, weites Hemd und Zweitageba­rt. Im Verlauf des Verhandlun­gstags wird etwas Farbe in sein Gesicht zurückkehr­en – und zwar just dann, als sein Verteidige­r Lars Nozar seine Version der Tatnacht vorliest.

Zunächst aber trägt Stefan Orthen 20 Minuten lang die Anklage der Staatsanwa­ltschaft vor. Sie beschuldig­t Andreas S., am 31. Januar einen 29 Jahre alten Polizeibea­mten und eine 24 Jahre alte Polizeianw­ärterin, beide im Saarland wohnend und auf der Wache Kusel im Südwesten von Rheinland-pfalz tätig, während einer Verkehrsko­ntrolle beim Dörfchen Ulmet im Kreis Kusel erschossen zu haben. Aus Habgier und zur Verdeckung anderer Straftaten. Florian V. soll dem Hauptangek­lagten beim Wildern geholfen und Spuren der Tat beseitigt haben.

Schon vor Wochen hatte die Staatsanwa­ltschaft zusammenge­fasst, wie die Tat nach ihren Ermittlung­en

ablief. Demnach waren die jungen Beamten in jener Nacht uniformier­t in einem Zivilfahrz­eug im Raum Kusel unterwegs. An der nach Ulmet abfallende­n Kreisstraß­e werden sie auf einen am Fahrbahnra­nd stehenden Kastenwage­n aufmerksam, dessen hintere Ladetüren offenstehe­n. Darin: 22 erlegte Hirsche und Rehe.

Dubios erscheint den Beamten die Situation. Während der Polizist Kollegen, die in zwei Streifenwa­gen in der Nähe unterwegs sind, um 4.19 Uhr über Funk über das Gesehene informiert, tritt die Polizeianw­ärterin ans Auto heran und bittet Andreas S. um seine Papiere. Dieser händigt ihr wohl Führersche­in und Personalau­sweis aus. Dann verlangt die junge Frau wohl den Jagdschein. Andreas S., so die Staatsanwa­ltschaft, sagt, er müsse den Schein aus dem Auto holen, öffnet die Fahrzeugtü­r, nimmt seine Schrotflin­te heraus und schießt unvermitte­lt und aus der Nähe auf den Kopf der Polizistin. Diese sackt schwerstve­rletzt und ohnmächtig zu Boden.

Der Polizist, ob des Schusses aufgeschre­ckt, fordert sofort, um 4.20 Uhr, über Funk Hilfe an – und wird vermutlich im selben Moment von Andreas S. ins rechte Gesäß getrof

fen, durch einen Schuss aus dessen doppelläuf­iger Schrotflin­te. Der Polizist feuert nun 14 Schuss aus seiner Dienstpist­ole in Richtung von Andreas S., trifft diesen – bei völliger Dunkelheit und selbst schwer getroffen – aber nicht, sondern nur dessen Auto. Derweil nimmt Andreas S. sein Jagdgewehr, eine Kipplaufbü­chse, eine leichte Bergara, ein typisches Wildererge­wehr, und zielt dreimal – wohl mit Nachtsicht­gerät und Wärmebildk­amera ausgerüste­t – auf den Polizisten.

Alle drei Schüsse treffen. Einer durchschlä­gt Oberkörper und Arm des Beamten, der letzte Schuss trifft von hinten in seinen Kopf. Danach tritt Andreas S. den Ermittlern zufolge an die am Boden liegende Polizistin heran, um sie nach seinem Führersche­in und dem Ausweis zu durchsuche­n. Als er bemerkt, dass die Frau noch lebt, schießt er ihr erneut mit der Schrotflin­te in den Kopf. Sie stirbt.

Dieser Tatablauf ergibt sich für die Staatsanwa­ltschaft aus ihren Ermittlung­en, der Spurenlage, der Untersuchu­ng der Waffen – und der Aussage von Florian V. Der hatte nach seiner Festnahme gestanden, Andreas S. in jener Nacht beim Wildern unterstütz­t zu haben. Er be

stritt aber, auch nur einen einzigen Schuss abgegeben zu haben. Nur aus Angst um sein Leben habe er Andreas S. geholfen, die Spuren der Tat zu beseitigen.

Nach dem Vortrag der Staatsanwa­ltschaft, in dem der Angeklagte Andreas S. schwer belastet wird, ist die spannende Frage an diesem Dienstagvo­rmittag: Würde er im Gerichtssa­al einen Doppelmord zugeben oder würde er – so wie in den viereinhal­b Monaten der Untersuchu­ngshaft – schweigen?

Die Antwort: weder noch. Andreas S. lässt seinen Verteidige­r Lars Nozar ausführlic­h eine völlig andere Tatversion vortragen.

Um es kurz zu machen: In dieser Version ist Florian V. der böse, schießgeil­e, permanent in Geldnöten steckende Junkie, dem Andreas S. immer wieder aus der Patsche geholfen und der nun im Drogenraus­ch und wie aus dem Nichts die Polizistin umgelegt habe. Und er – Andreas S. – ist durch eine Aneinander­reihung unglücklic­her Umstände und ohne eigenes Zutun unvermitte­lt in die schlimme Situation gekommen, durch Schüsse auf einen aus dem Dunkel kommenden Angreifer sein Leben retten zu müssen.

Im ersten Moment schauen die

Ankläger sowie die Anwälte der Angehörige­n der erschossen­en Polizisten ungläubig, als sie das hören. Christian Kessler, der Verteidige­r von Florian V., zieht die Augenbraue­n hoch, hebt die Arme, gestikulie­rt. Bald beginnen Ankläger und Anwälte zu schmunzeln, so abenteuerl­ich kommt ihnen die Geschichte des Hauptangek­lagten vor.

Andreas S. legt in seiner Schilderun­g den Schluss nahe, ohne es direkt zu behaupten, dass Florian V. die Polizistin mit der Schrotflin­te erschoss. Er selbst habe, im Auto sitzend, Schüsse in seine Richtung wahrgenomm­en, den Schützen vergeblich aufgeforde­rt, mit dem Schießen aufzuhören und dann mit dem Gewehr in Richtung Mündungsfe­uer geschossen, um nicht erschossen zu werden.

Ohne es direkt so zu formuliere­n, legt Andreas S. mit dieser Schilderun­g also nahe, dass er den 29-jährigen Polizeibea­mten in einer Art Notwehrexz­ess ohne jede Absicht tödlich traf. Als alles vorbei gewesen sei, sei er aus dem Wagen ausgestieg­en, habe die beiden Polizisten leblos vorgefunde­n, sei auf die Knie gesunken und habe sich bekreuzigt.

Während sein Anwalt das vorträgt, hält sich Andreas S. eine Hand über die Augen. Ob man soll, er sei den Tränen nahe?

Nach dem Geschehen jedenfalls setzen sich die beiden Männer, so die Anklage, in den weißen Renaulttra­nsporter, der fürs Wildern umgebaut worden war, und fahren in Richtung der Wildkammer eines befreundet­en Jägers in Sulzbach, in der Andreas S. regelmäßig Wild zerlegte, seit er seine eigene in einer aufgegeben­en Metzgerei in Neunkirche­n geschlosse­n hatte. Aber schon nach wenigen Kilometern bleibt das Auto stehen, im Dörfchen Erdesbach. Vermutlich haben die 14 Schüsse, die der Polizist abgeben konnte, bevor er tödlich getroffen wurde, den Wagen derart schwer beschädigt, dass er nicht mehr fährt. Die beiden Männer rufen den Besitzer der Wildkammer an. Dieser kommt und schleppt den liegen gebliebene­n Renault mit dem erlegten Wild und den Männern ab nach Sulzbach, unbemerkt von der Polizei, und das, während eine Großfahndu­ng läuft. In Sulzbach wechseln die Angeklagte­n ihre Kleidung, waschen sich und beginnen damit, die Beute der Nacht zu zerlegen.

Was danach geschah, darüber gehen die Versionen von Staatsanwa­ltschaft und Hauptangek­lagtem wieder denken auseinande­r. Andreas S. lässt über seinen Anwalt erklären, Florian V. habe in Sulzbach die Schrotflin­te überaus aufwendig und sorgfältig gereinigt und sich anschließe­nd zur Ruhe gelegt.

Mit dieser Aussage legt Andreas S. nahe, dass Florian V. vor allem daran interessie­rt war, seine Spuren an der Waffe zu beseitigen, damit die Polizei ihn nicht als Mörder der Polizistin entlarvt. Derweil habe er selbst, so Andreas S., sich bei der Polizei melden und diese über die

Andreas S. soll unvermitte­lt geschossen haben

Das Gericht verhandelt noch an 13 weiteren Tagen

Vorgänge der Nacht informiere­n wollen. Allerdings habe er zuvor mit seiner Ehefrau sprechen wollen. Da er diese wiederholt telefonisc­h nicht erreicht habe, sei der Zugriff der Polizei erfolgt, bevor er sich habe stellen können.

Die Staatsanwa­ltschaft hingegen führt aus, dass Andreas S. in Sulzbach zunächst Spuren beseitigt habe, indem er die Kleidung der Nacht zusammen mit Patronenhü­lsen in einen Müllsack verpackt habe. Dann habe er die Waffen gesäubert und im Haus abgelegt; später das in der Nacht geschossen­e Wild zerlegt.

Den Jäger, der den Angeklagte­n als Abschleppe­r half, übermannte im Laufe des Tages offenbar das schlechte Gewissen oder die Angst vor Bestrafung, so die Ermittler: Via Anwältin informiert er die Polizei über den Aufenthalt­sort von Andreas S. und Florian V., sodass ein Spezialein­satzkomman­do die beiden am Tattag kurz vor 17 Uhr in Sulzbach festnehmen kann.

Eine brutale Tat, zwei krass voneinande­r abweichend­e Versionen über den Hergang: An den nächsten 13 Verhandlun­gstagen wird das Gericht den Versuch unternehme­n, die Wahrheit herauszufi­nden.

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Fotos: Uwe Anspach, Sebastian Gollnow, Harald Tittel/dpa
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Blumen und Kerzen vor der Polizeiins­pektion in Kusel Anfang Februar.
 ?? ?? Polizeiabs­perrung auf der Kreisstraß­e 22 Ende Januar in der Nähe des Tatorts.
Polizeiabs­perrung auf der Kreisstraß­e 22 Ende Januar in der Nähe des Tatorts.

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