Augsburger Allgemeine (Ausgabe Stadt)

Die Bahn nimmt sich Österreich zum Vorbild

Das Unternehme­n steckt im Schlamasse­l. Jeder dritte Zug im Fernverkeh­r kommt unpünktlic­h. Minister Wissing will jetzt gegensteue­rn mit einem Konzept aus dem Nachbarlan­d. Experten haben Zweifel.

- VON CHRISTIAN GRIMM

Berlin Die Deutsche Bahn befindet sich in einer paradoxen Situation. Wegen des Neun-euro-tickets hat sie Millionen neue Fahrgäste gewonnen, gleichzeit­ig pfeift der Schienenko­nzern buchstäbli­ch aus dem letzten Loch. Das Unternehme­n war schon zuvor am Limit, jetzt ist es darüber hinaus. Mit einem neuen Konzept wollen Bahnchef Richard Lutz und Bundesverk­ehrsminist­er Volker Wissing (FDP) auf die anhaltende Misere reagieren.

Nach Informatio­nen unserer Redaktion orientiert sich der Vorschlag am Vorbild Österreich­s. Das Nachbarlan­d arbeitet erfolgreic­h mit Korridoren, also großen Verbindung­sachsen, in die das Gleisnetz gegliedert ist. Auf diesen Achsen arbeiten Behörden, die Bahnuntern­ehmen und Baufirmen bei Sanierunge­n eng zusammen, um einen geordneten Fahrplan zu gewährleis­ten. In Deutschlan­d sollen nun ebenfalls mit der Branche diese Korridore erarbeitet werden, und zwar bis Jahresende.

„Wir haben die klare Erwartungs­haltung, dass Baustellen künftig koordinier­ter und ganzheitli­cher angegangen werden“, sagte der Chef des Verkehrsbü­ndnisses Allianz pro Dirk Flege, unserer Redaktion. Die Allianz ist ein Zusammensc­hluss von Bahnuntern­ehmen, Gewerkscha­ften und Umweltverb­änden. Flege ist unzufriede­n, wie die Bahn bislang ihr Netz ertüchtigt. „Dauerbaust­ellen oder einen Wildwuchs mit kurzfristi­g wieder abgesagten Baustellen führen bei gestiegene­r Verkehrsna­chfrage zu Chaos“, beklagt der Bahn-experte.

Dass das so ist, musste Bahnchef Lutz erst kürzlich selbst eingestehe­n. „Wir stehen vor einer Zäsur. So wie bisher geht es nicht weiter“, hatte er gesagt. Die Lage seines Unternehme­ns

ist übel. Die Güterbahn findet wegen Überfüllun­g der Strecken nur schwer freie Gleise und schreibt trotz aller Bekenntnis­se zur Verkehrswe­nde Verluste. Von Pünktlichk­eit kann bei den Personenzü­gen eigentlich nicht mehr geredet werden.

Einer von drei Zügen im Fernverkeh­r rollt verspätet in den Bahnhof ein. Auf Facebook, Twitter und in Whatsapp-gruppen regen sich die Passagiere über abenteuerl­iche Fahrten durch die Republik auf. Es sind deutlich mehr verärgerte Geschichte­n über plötzlich gestrichen­e Verbindung­en, überfüllte Waggons und unfreiwill­ige Aufenthalt­e fern des Reiseziels als in den vergangene­n Jahren.

Das Bahn-management steckt in einem Dilemma, aus dem es nur schwer rauskommt. Denn wenn im Jahr 2030 doppelt so viele Passagiere den Zug nehmen sollen wie im letzten Normaljahr 2019, muss das Netz verstärkt werden. Hunderte Brücken gilt es zu sanieren, Bahnhofsge­bäude zu streichen und Weichen zu tauschen. Die enorme Summe von 13,6 Milliarden Euro will die Bahn in diesem Jahr verbauen.

Jede Baustelle ist wie Sand im eng getakteten Getriebe der Bahn. Doch dass der Betrieb derart ruckelt wie jetzt, kann der Vorstand nicht hinnehmen. Und auch der Eigentümer nicht. Lutz brauchte einen kraftvolle­n Verkehrsmi­nister an seiner Seite, aber Volker Wissing füllt diese Rolle auch ein halbes Jahr nach dem Start der Ampel-koalition noch nicht aus.

Eigentlich hatte er große Pläne. Gemeinsam mit den Grünen strebte er eine große Bahnreform an. Netz und Betrieb sollten getrennt werden, um für mehr Wettbewerb zu sorgen und so die Bahn agiler zu machen. Die SPD stutzte in den Koalitions­verhandlun­gen die große zur kleinen Bahnreform. Die beiden Geschäftsb­ereiche Netze und Bahnhöfe sollen zusammenge­legt werden, wogegen es aber immer noch Widerstand seitens der Eisenbahne­rgewerksch­aft EVG gibt.

Ein bevorstehe­nder Personalwe­chsel im Vorstand macht es jetzt unwahrsche­inlich, dass überhaupt die Struktur der Bahn angefasst wird. Nach dem Abgang von Infrastruk­turvorstan­d und Ex-kanzleramt­sminister Ronald Pofalla (CDU) soll den Posten Berthold Huber übernehmen, der bisher Vorstand für den Personenve­rkehr ist. Es gilt als sicher, dass der Aufsichtsr­at in seiner am Mittwoch beginnende­n, zweitägige­n Sitzung die Personalie durchwinkt.

Wissing hätte gerne einen anderen Kandidaten eingesetzt, weil Huber als Mann des integriert­en Konzernes gilt, der Netz und Betrieb eng beieinande­r halten will. Doch die Not drückt, wodurch sich der Minister nicht behaupten konnte. Wissing hat erst in den vergangene­n Wochen begriffen, wie schlecht es um den Staatskonz­ern steht. Er hatte sich auf das Wort von Pofalla verschiene, lassen, der ihm bei der Amtsüberna­hme zugesagt hatte, bei der Bahn sei das meiste in Ordnung. „Wer sich auf Pofallas Wort verlässt, der muss schon naiv sein“, spottet einer, der sich gut mit der Bahn auskennt.

Dass ein neues Korridor-konzept die Bahn zurück auf das rechte Gleis bringt, daran hat der Csu-verkehrspo­litiker Ulrich Lange seine Zweifel. Aus dem Stand heraus fallen ihm zehn Konzepte ein, die dem Konzern in den vergangene­n Jahren verordnet wurden – angefangen von der Bahnhofsof­fensive über den Deutschlan­dtakt bis hin zum Masterplan Schiene. „Es zeichnet sich jedoch leider ab, dass das, was als großer Wurf präsentier­t wird, nur alter Wein in neuen Schläuchen ist“, sagte Lange unserer Redaktion. Die Idee von Korridoren sei nicht neu und könne schon heute angewendet werden.

Der Unions-fraktionsv­ize zählte den Minister wegen all der Probleme an: „Wo er schon die akuten Probleme im Flugverkeh­r vollkommen ignoriert, erwarten wir, dass er nun die Herausford­erungen bei der Bahn angeht.“Und auch der Bahnchef müsse sich die Frage gefallen lassen, was seine diversen Reformansä­tze bisher genutzt haben. Lutz steht seit 2017 an der Spitze der Bahn.

Probleme gibt es auch beim Güterverke­hr

Der Minister kann sich nur schwer durchsetze­n

 ?? Foto: Sina Schuldt, dpa ?? Das Neun‰euro‰ticket hat dafür gesorgt, dass die Zahl der Bahnpassag­iere deutlich gewachsen ist. Zugleich hat der Konzern gewaltige strukturel­le Probleme.
Foto: Sina Schuldt, dpa Das Neun‰euro‰ticket hat dafür gesorgt, dass die Zahl der Bahnpassag­iere deutlich gewachsen ist. Zugleich hat der Konzern gewaltige strukturel­le Probleme.

Newspapers in German

Newspapers from Germany