Augsburger Allgemeine (Ausgabe Stadt)

„Wir müssen hart und unnachgieb­ig sein“

Der Nato-beitritt Schwedens sei jetzt der richtige Schritt, sagt Stefan Löfven. Und doch hofft der frühere Ministerpr­äsident, dass die Welt nicht in ein neues Wettrüsten verfällt. Ein Gespräch über Putin, Naivität in der Politik und die Gräueltate­n der ru

- Interview: Ekaterina Venkina

Herr Löfven, als schwedisch­er Ministerpr­äsident haben Sie sich 2019 mit dem russischen Präsidente­n Wladimir Putin getroffen. „Ein gutes Gespräch mit klaren Antworten“, war Ihr damaliger Eindruck. Hat sich Ihre Einstellun­g zu Putin seither geändert? Stefan Löfven: Bereits bei diesem bilaterale­n Treffen habe ich die Position Schwedens zur Annexion der Krim, zur Lage in der Ostukraine und zum Kaukasuskr­ieg 2008 klar dargelegt. Ich habe hervorgeho­ben, was Russland unserer Meinung nach falsch gemacht hat. Gleichzeit­ig haben wir uns aber auch bemüht, die Beziehunge­n zu Moskau zu entwickeln. Wir sind Nachbarlän­der und werden es auch bleiben (Anm.: Die schwedisch­e Insel Gotland liegt 300 Kilometer von der russischen Ostseeexkl­ave Kaliningra­d entfernt). Mein Eindruck von diesem Treffen war, dass es ein gutes Gespräch mit klaren Antworten war. Und dass auch von russischer Seite, von Präsident Putin, das Bestreben da war, gute Beziehunge­n zu Schweden zu haben.

Was war Ihre Reaktion auf den russischen Angriff auf die Ukraine am 24. Februar?

Löfven: Dass es ein Vorher und ein Nachher gibt, ist klar. Der massive Einmarsch in das Nachbarlan­d, den Russland an diesem Tag startete und mit dem viele nicht gerechnet hatten, hat uns in eine völlig neue Situation versetzt.

Was ist daran grundlegen­d neu? Löfven: Russland ist bereit, territoria­le Grenzen durch eine groß angelegte Invasion zu verändern. Die Annexion der Krim war schon schlimm genug. Aber der Krieg in der Ukraine ist etwas völlig Neues. Er zeigt, dass Russland die europäisch­e Sicherheit­sordnung, die Uncharta und andere internatio­nale Konvention­en völlig missachtet. Es bricht das Völkerrech­t. Die Führung in unserem Nachbarlan­d ist bereit, gegen alle Regeln zu verstoßen. Für sie gibt es offensicht­lich keine Grenzen. Wir müssen also über die Konsequenz­en für unser Land nachdenken.

Ihr Kabinett hat eine zweigleisi­ge Politik gegenüber Russland verfolgt: engagieren und kritisiere­n. Gab es Schwachste­llen in Ihrem Ansatz? War er zu naiv?

Löfven: Naiv war er nicht, es war eine Strategie. Ich stimme mit der ehemaligen Bundeskanz­lerin Angela Merkel überein. Ich habe gelesen, was sie im Interview mit dem Spie

gel-autor gesagt hat. Sie sagte, sie habe versucht, ein anständige­s und gutes Verhältnis zu Russland aufzubauen. Und ein Versuch ist immer gut. Ich denke also, dass unser Ansatz absolut richtig und nicht naiv war. Es war eine klare und eindeutige Strategie, die wir verfolgt haben.

Die Telefonate der deutschen und französisc­hen Staatschef­s mit Putin sind auf viel Kritik gestoßen. Wie verhandelt man mit einem imperialis­tischen Staat, dessen zentrales Ziel, zumindest in Bezug auf die Ukraine, Zerstörung ist?

Löfven: Der schwedisch­e Spitzendip­lomat Jan Eliasson hat sich immer für die Aufrechter­haltung des Dialogs ausgesproc­hen. Aber wir müssen deutlich machen, was wir denken und in welche Richtung wir uns bewegen wollen. Im Moment sehe ich nicht, dass Putin seine Haltung zur Ukraine ändert, und ich glaube auch nicht, dass er das tun wird. Aber an dem Tag, an dem wir aufhö

ren, Gespräche zu führen, sind wir wirklich in Gefahr.

Sind schärfere Sanktionen gegen Moskau wegen der Kriegsverb­rechen in der Ukraine erforderli­ch?

Löfven: Wir müssen hart und unnachgieb­ig sein, denn es handelt sich um eine Verletzung der europäisch­en Sicherheit­sordnung. Die EU, die USA, Kanada, mehrere asiatische Länder und Australien haben eine harte Position in dieser Frage eingenomme­n. Und sie sollten sich daran halten. Gleichzeit­ig müssen wir aber auch an die Zukunft denken, an die künftigen Beziehunge­n. Es sollte immer ein Gleichgewi­cht geben.

Glauben Sie, dass sich das russische Regime angesichts seiner Gräueltate­n in der Ukraine allmählich in Richtung Illegitimi­tät bewegt?

Löfven: Nun, das überlasse ich denjenigen, die jetzt in den Eu-regierunge­n sitzen. Aber wir sollten nicht

naiv sein. Die russische Führung ist bereit, alle Regeln zu brechen, von denen wir dachten, dass sie für uns alle gelten. Gleichzeit­ig verändert sich die geopolitis­che Landkarte. Wir sehen, dass Russland und China eine enge Zusammenar­beit entwickeln. Wir sollten nicht in dem Szenario enden, das George Orwell in seinem Buch „1984“beschriebe­n hat, in dem drei oder vier große Blöcke von Staaten zu Gegnern werden. Nachhaltig­keit hat nichts mit Feindselig­keit zu tun; sie bedeutet kein ständiges Wettrüsten, keine Steigerung der Rüstungsau­sgaben. Wir müssen den Frieden gestalten, über den Frieden reden, für den Frieden handeln.

Sie haben Ihren Standpunkt zum Beitritt Schwedens zur Nato geändert. Jetzt unterstütz­en Sie die Entscheidu­ng der Regierung, die den Antrag gestellt hat. Warum?

Löfven: Das Kabinett hat seine Position nach dem massiven Einmarsch

Russlands in der Ukraine ebenfalls geändert. Finnland hat schon früh nach dem 24. Februar deutlich gemacht, dass es der Nato beitreten möchte. Während meiner siebenjähr­igen Amtszeit als Ministerpr­äsident hat Schweden seine Zusammenar­beit mit Finnland im Verteidigu­ngsbereich erheblich ausgebaut. Wenn es nun ohne Schweden der Nato beitritt, wird die bilaterale Zusammenar­beit mit uns für Helsinki zweitrangi­g sein und erst nach der Zusammenar­beit mit dem Bündnis kommen. Und das könnte auch unsere Fähigkeit, uns selbst zu verteidige­n, gefährden. Zusammenfa­ssend kann ich also sagen: Ja, ich glaube, dass jetzt der richtige Zeitpunkt für einen Nato-beitritt Schwedens ist. Aber wie gesagt, wir müssen über die militärisc­he Abschrecku­ng hinaus denken. Langfristi­g brauchen wir eine nachhaltig­e Sicherheit, und das bedeutet: gemeinsame Sicherheit. Wenn sich die Nachbarlän­der Schwedens sicher fühlen, wird sich auch Schweden sicher fühlen. Deshalb müssen wir die derzeitige Perspektiv­e ändern.

Seit Kriegsbegi­nn gibt es Befürchtun­gen, Moskau könnte sogenannte taktische Atomwaffen einsetzen.

Löfven: Wir sollten die Diskussion wieder aufnehmen, dass die heutige Modernisie­rung der Atomwaffen die Schwelle für ihren Einsatz nicht senken sollte. Sie muss vielmehr angehoben werden. Michail Gorbatscho­w und Ronald Reagan sprachen von der Abschaffun­g der Atomwaffen. Sie haben die Zahl der Atomspreng­köpfe drastisch reduziert. Was wir heute brauchen, ist ein Mechanismu­s, der uns genau dies ermöglicht, und er muss vertrauens­würdig sein.

Ihr Friedensfo­rschungsin­stitut Sipri hat kürzlich gewarnt, die Gefahr eines Atomkriegs sei größer als jemals zuvor seit dem Höhepunkt des Kalten Krieges. Zudem überstiege­n die weltweiten Militäraus­gaben im Jahr 2021 erstmals die Marke von zwei Billionen Dollar. Wie können wir aus dieser Spirale des globalen Wettrüsten­s herauskomm­en?

Löfven: Als Ministerpr­äsident war ich persönlich für die Entscheidu­ng verantwort­lich, Schwedens Militäraus­gaben zwischen 2014 und 2025 um mehr als 80 Prozent zu erhöhen. Natürlich müssen wir den Bürgern zeigen, dass wir unser Land verteidige­n. Aber gleichzeit­ig habe ich mich bei fast jeder Entscheidu­ng, die ich getroffen habe, gefragt, was wir tun, um Spannungen abzubauen und Vertrauen aufzubauen. Denn ständig steigende Rüstungsau­sgaben tragen nicht zu einer nachhaltig­en Sicherheit bei. Wir wollen keinen Rüstungswe­ttlauf, nicht für uns, nicht für unsere Kinder und nicht für künftige Generation­en. Wir sollten auch mehr Bündnisse schließen, um den Klimawande­l zu bekämpfen und die Umwelt zu schützen.

Seit Juni sind Sie in Ihrer neuen Funktion als Vorsitzend­er des Sipriverwa­ltungsrats tätig. Sie sind auch Berater von Un-generalsek­retär António Guterres. Was erhoffen Sie sich von diesen beiden neuen Aufgaben? Löfven: Das Sipri-institut hat kürzlich eine Analyse mit dem Titel „Umwelt des Friedens: Sicherheit in einer neuen Ära des Risikos“veröffentl­icht. Klimawande­l und Umweltkata­strophen werden dazu führen, dass immer mehr Menschen aus ihrer Heimat fliehen müssen. Das wird die Konflikte verschärfe­n. Wir müssen uns also damit auseinande­rsetzen. Gemeinsam mit der ehemaligen Präsidenti­n von Liberia, Ellen Johnson Sirleaf, leite ich auch einen hochrangig­en Beirat für effektiven Multilater­alismus zur Vorbereitu­ng des Zukunftsgi­pfels 2023. Bislang haben wir uns zweimal physisch und einmal virtuell getroffen. Wir haben ausführlic­h über die Verteilung von Impfstoffe­n während der Pandemie, über das Problem der Konfliktpr­ävention, über Klima- und Umweltfrag­en und über das Thema Digitalisi­erung gesprochen.

Die Sozialdemo­kraten in Schweden, deren Vorsitzend­er Sie bis 2021 waren, setzen traditione­ll stark auf Friedensdi­plomatie. Wie können wir verhindern, dass Krieg und Konflikte zur neuen Normalität in Europa werden? Löfven: Ich glaube, dass Olof Palmes Konzept der „gemeinsame­n Sicherheit“heute so aktuell ist wie vor 40 Jahren. Wie finden wir Bereiche, in denen wir zusammenar­beiten können? Wie gestalten wir das Bild der Welt, in der wir leben wollen? Heute sind die Probleme so zahlreich und so schwer zu bewältigen. Aber gerade in diesen Tagen, in diesen harten und schwierige­n Zeiten, müssen wir positiv denken, müssen wir andere Narrative entwickeln.

● Stefan Löfven war von 2014 bis 2021 Ministerpr­äsident von Schweden. Seit Juni ist er Verwal‰ tungsratsv­orsitzende­r des renom‰ mierten Stockholme­r Friedensfo­r‰ schungsins­tituts SIPRI.

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Foto: Björn Lindahl, Imago Images Stefan Löfven gehörte lange Jahre zu den Politikern, die um einen konstrukti­ven Austausch mit Russland bemüht waren. Heute sagt er: „Wir müssen hart und unnachgieb­ig sein.“

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