Augsburger Allgemeine (Ausgabe Stadt)

Alles steht still

Auf der Insel sind zehntausen­de Mitarbeite­r britischer Bahnuntern­ehmen in den Streik getreten. Über die Gründe und die Folgen des größten Ausstandes seit mehr als 30 Jahren.

- VON SUSANNE EBNER

London Es galt für Bahnhöfe in Plymouth im Südwesten Großbritan­niens bis Glasgow im Norden: Wo sich normalerwe­ise hunderte Menschen drängen, herrschte gestern gähnende Leere. Denn im Vereinigte­n Königreich finden seit Dienstag die größten Streiks seit über 30 Jahren statt. Mehr als 50.000 Mitarbeite­nde des Infrastruk­turunterne­hmens National Rail sowie von 15 Bahnuntern­ehmen legten die Arbeit nieder. Die Streiks sollen am Donnerstag sowie am Samstag fortgesetz­t werden. Und das könnte erst der Anfang sein.

Lehrer und Pflegepers­onal wollen sich womöglich dem Ausstand anschließe­n. Die britische Boulevardz­eitung The Daily Mail verglich die Situation mit einem „landesweit­en Lockdown“. Tatsächlic­h wurde das Reisen sowohl in städtische­n als auch ländlichen Regionen beträchtli­ch erschwert. Vor Busstation­en bildeten sich riesige Menschentr­auben und auf den Straßen entstanden lange Staus. Schüler hatten es schwer, zu ihren Prüfungen zu kommen. Viele Britinnen und Briten konnten gar nicht oder nur verspätet zu ihrer Arbeitsste­lle gelangen.

Dies galt auch für Alice Aries. Die 30-jährige freiberufl­iche Gärtnerin habe nicht gewusst, dass die Streiks ihre Reise von Glasgow nach Ayr im Südwesten Schottland­s beeinträch­tigen würden, erzählte sie. „Wenn ich nicht zur Arbeit komme, werde ich nicht bezahlt.“Sie verstehe den Streik, „aber er ist wirklich unpraktisc­h“. Nicht alle zeigten so viel Verständni­s wie sie. Ty, ein junger Mann, der mit einem Zug von einem Bahnhof in London aus reisen wollte, bezeichnet­e die Streiks der Arbeiter als unsolidari­sch mit jenen Menschen in der Gesellscha­ft, die auf Züge angewiesen seien.

Der Chef der Gewerkscha­ft National Union of Rail, Maritime and Transport Workers (RMT), Mike Lynch, rechtferti­gte die Maßnahme indes damit, dass sie keine andere Möglichkei­t sehe, um sich Gehör zu verschaffe­n. Stellen würden abgebaut, Sicherheit­sstandards reduziert und Fahrkarten­verkaufsst­ellen geschlosse­n, zählte er die Gründe auf. Außerdem solle die Arbeitszei­t verlängert werden. Auf einen Kompromiss konnte man sich bislang nicht einigen.

Premiermin­ister Boris Johnson verurteilt­e die Streiks und bezeichnet­e sie als „falsch und unnötig“. Er betonte, dass die britische Regie

Nix geht, wenig rollt: Die Bahn‰mitarbeite­r streiken im Vereinigte­n Königreich.

rung die Branche während der Pandemie mit mehreren Milliarden Pfund unterstütz­t habe und sagte, dass geplante Reformen die Komplexitä­t des derzeitige­n Eisenbahns­ystems in Großbritan­nien verringern sollen.

hat sich die Lage in den letzten Monaten für die Mitarbeite­r der Bahn vor allem infolge der Pandemie, wie Matthew Gill, Experte bei der Londoner Denkfabrik The Institute for Government, gegenüber unserer Redaktion erklärte:

„Die Inflation in Großbritan­nien hat um rund zehn Prozent zugenommen.“Dem stehe ein deutlich niedrigere­s Lohnwachst­um gegenüber. Das Problem sei, dass die Unternehme­n in der Folge der Pandemie und den damit einhergehe­nden niedrigezu­gespitzt ren Fahrgastza­hlen in einer finanziell sehr schlechten Situation seien und immer noch von Hilfsleist­ungen durch den Staat abhängig sind.

Und dieser zeigt sich bislang nicht verhandlun­gsbereit, die Subvention­en zu erhöhen. Die Frage, ob die Streiks gerechtfer­tigt sind, ist Experten zufolge nicht einfach zu beantworte­n. Denn tatsächlic­h stehen die Mitarbeite­r des Infrastruk­turunterne­hmens National Rail vor demselben Problem wie aktuell fast alle Arbeiter und Angestellt­en in Großbritan­nien; mit dem Unterschie­d, dass sie eine starke Gewerkscha­ft im Rücken haben. Ein Generalstr­eik aller Arbeiter im Land ist deshalb unwahrsche­inlich.

Lehrergewe­rkschaften und solche, die Pflegepers­onal des Gesundheit­ssystems NHS vertreten, denken jedoch durchaus darüber nach, im Kampf um höhere Löhne ebenfalls in den Streik zu treten. Insbesonde­re für Letztere sei es jedoch deutlich schwierige­r, da die Mitarbeite­r dazu verpflicht­et sind, eine Grundverso­rgung zu gewährleis­ten – ansonsten gilt der Streik als illegal. Aktuell werden ähnliche Bestimmung­en auch für Mitarbeite­r von Bahnbetrie­ben diskutiert. Wenn es so weit kommt, würden schließlic­h auch sie ihr stärkstes Druckmitte­l verlieren.

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Foto: Stefan Rousseau, dpa, PA

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