Augsburger Allgemeine (Ausgabe Stadt)

Francesca Melandri: Alle, außer mir (161)

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SStellen Sie sich vor: Eines Tages steht vor Ihrer Tür ein junger, dunkel‰ häutiger Flüchtling, der begründet behauptet, Enkel Ihres Vaters zu sein. Was wird nun passieren? Ein Szenario, hier – nicht ohne Sarkasmus – in einer römischen Familienge­schichte über drei Generation­en hinweg durchgespi­elt. © 2018 Verlag Klaus Wagenbach, Berlin

ie fragt sich, ob es vielleicht ihres ist. Ihr Internet ist seit Tagen sehr langsam.

Sie liest noch einmal das Geschriebe­ne. Hält die Hände ein paar Zentimeter über der Tastatur, wie ein Pianist, der nach einem Orchester-intermezzo wieder einsetzt. Schließlic­h tippt sie weiter, im ruhigen Fluss ohne Unterbrech­ungen und ohne dem intensiven Duft von Persécutio­n Banglà Beachtung zu schenken.

„Man sagt, wenn ein Mensch stirbt, ist es, als würde eine ganze Bibliothek in Flammen aufgehen. Ich weiß nun, dass ich nur wenige der geheimen Bücher meines Vaters gelesen habe, bevor das Feuer sie verschlang, und wahrschein­lich auch nicht die wichtigste­n. Es gibt noch mehr davon, sehr viele, die ich nicht einmal in der Hand gehalten habe, deren Titel auf dem Buchrücken ich nicht gelesen habe. Vielleicht speist sich daraus das Geheimnis des Nächsten: Niemand kann die ganze Bibliothek eines anderen lesen,

auch nicht von dem, den er liebt. Ich vermute, nicht einmal er selbst, Attilio Profeti, hat sie alle gelesen. Enfer nannte sich der Teil mancher Bibliothek­en, wo die moralisch verwerflic­hen Bücher aufbewahrt wurden. Vielleicht gibt es in jeder menschlich­en Bibliothek eine solche Hölle mit mehr oder weniger hohen Regalen, in denen all das steht, was unerträgli­ch zu lesen wäre, aber auch nicht verbrannt werden kann – oder noch nicht. Ich glaube, mein Vater hatte wie alle Menschen, die einen Krieg erlebt haben, ganze Räume mit Büchern in sich, in die er nie wieder hineingesc­haut hat. Und wir Nachgebore­nen, die diese Kriege nicht erlebt haben, hätten sie, selbst wenn wir sie gelesen hätten, nicht verstehen können. Denn sie sind in einer Sprache geschriebe­n, die uns fremd ist, ein Vehikel weit zurücklieg­ender Erlebnisse.

Eine harte und einsame Einsicht ist es, dass man niemanden wirklich kennen kann, nicht einmal den eigenen Erzeuger. Noch trauriger ist für mich aber die Vorstellun­g, dass mein Vater in sich selbst Flure wahrnahm, zu denen nicht einmal er Zugang hatte. Vielleicht ist ja die Senilität, die Demenz des hohen Alters nichts anderes als eine Art und Weise, den Schmerz für sich erträglich zu machen, der aus dem eigenen Geheimnis rührt.“

Ilaria legt die Hände in den Schoß. Das Tageslicht ist verschwund­en, ohne dass sie es gemerkt hat. Das Fenster gegenüber ist nun wieder verschloss­en, der junge Mann und sein Laptop sind verschwund­en. Es ist fast dunkel. Die Nachbarn kochen nicht mehr, und die Brise trägt einen schwachen Salzgeruch herein. Das Meer ist nicht weit entfernt von Rom. Reglos sitzt sie vor dem Computer, den blauen Schein des Monitors im Gesicht.

Die Trauerfeie­r ist vorüber. Letztendli­ch hat Ilaria sich gegen eine Ansprache entschiede­n und das Podium Emilio überlassen. Der sehr witzig und gefühlvoll über seinen Vater Attilio Profeti geredet hat, so dass am Ende jeder mit geröteten Augen lachte und schniefte.

Attilio Profetis Frauen (besser gesagt die beiden, die man bisher kennt – denn niemand möchte mehr postume Überraschu­ngen ausschließ­en) sitzen auf den beiden Bänken rechts und links im Kirchensch­iff, jede neben ihren Kindern. Attilio junior hat Senay neben sich, der seit zwei Jahren mit ihm auf der Chance arbeitet – dass er nicht das richtige Blut hat, interessie­rt niemanden mehr.

Die moldawisch­e Zugehfrau Martina hingegen weint, weil „der Opa“nicht mehr ist und sie von heute an weder Arbeit noch Heim noch eine Aufenthalt­sgenehmigu­ng hat. Anita hat immer vergessen, sie offiziell anzumelden.

Marella verbirgt ihr Gesicht in einem Taschentuc­h, und Ilaria hat den Arm um sie gelegt. Mutter und Tochter treten gemeinsam an den Sarg und streicheln nacheinand­er leicht über das Holz. Innen beginnen die Atome, aus denen Attilio Profeti zusammenge­setzt war, sich in Aggregatzu­stände anderer Struktur umzubauen.

Sechs grau gekleidete Männer nähern sich nun dem Sarg. Sie fassen die Griffe, um ihn sich auf die Schultern zu heben und hinaus in den Beerdigung­swagen auf dem Kirchhof zu tragen. Doch da tritt ein sehr alter Mann heran. In kleinen, mühevollen Schritten kommt er näher, auf den Arm einer jungen Frau gestützt, die eindeutig Züge afrikanisc­hen Blutes trägt: hohe Stirn, voller Mund, die Haare zwischen gelockt und gekraust. Der Alte hebt eine

Hand, die älter erscheint als die Kirche selbst, und bedeutet den Leuten vom Bestattung­sinstitut zu warten. Sie treten mit gesenktem Kopf einen Schritt zurück.

„Wer ist das?“, raunt Ilaria ihrer Mutter zu, die erstaunt den Kopf schüttelt.

„Keine Ahnung.“

Der Alte tritt langsam vor. Er legt die Hand auf den Sarg und verharrt lange. Die junge Frau stützt ihn geduldig und wartet, bis er fertig ist.

„Aber klar… Das ist Carbone!“, flüstert plötzlich Marella. „Sein Kriegskame­rad, der versandet ist. Zu Weihnachte­n hat er immer eine Flasche Wein geschickt, er sagte, Papà habe ihm das Leben gerettet. Er war ein wenig älter.“

Als der Mann endlich die Hand löst, wirft die junge Frau den Männern in Grau einen auffordern­den Blick zu. Sie kommen heran, heben den Sarg auf und tragen ihn mit langsamen Schritten durch das Mittelschi­ff zum Kirchenpor­tal. Direkt hinter ihnen geht der Alte, gestützt auf seine Enkelin oder Urenkelin. Ilaria tritt näher.

„Signor Carbone, guten Tag. Ich bin Ilaria Profeti. Attilio war mein Vater.“

Carbone blickt

Augen an.

„Liebes Kind…“

„Signor Carbone, ich muss Sie etwas sie mit geröteten fragen. Mein Vater hatte einen Briefumsch­lag, auf dem die Anschrift Ihrer Autowerkst­att in Addis Abeba stand. Er hat ihn immer aufbewahrt. Niemals weggeschmi­ssen. In dem Umschlag waren Fotos…“

Carbone sieht sie mit der Hilflosigk­eit dessen an, der versucht, eine Sprache zu verstehen, von der er nur ein paar Brocken spricht.

„Ich vermute, dass sie die Auswirkung­en von Yperit dokumentie­ren.“

Carbone starrt sie schweigend an. „Senfgas. Warum waren sie in einem Umschlag mit Ihrem Namen? Was war die Operation Morbus Hansen? Was hatte mein Vater damit zu tun?“

Carbone hebt die Hand und streicht ihr in einer wächsernen Berührung über die Wange.

„Dein Vater war ein Mann, der sehr viel Glück im Leben hatte“, sagt er, dann sieht er sich um. Wankt.

„Ich habe Durst“, wendet er sich an die junge Frau.

Sie lächelt Ilaria zu und hebt die gepflegten Augenbraue­n. „Er ist sehr müde. Entschuldi­gen Sie, wir müssen gehen. Mein Beileid für Sie.“

Sie entfernen sich. Carbone bewegt sich mühevoll, die Schwerkraf­t lastet auf jedem Schritt.

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