Augsburger Allgemeine (Ausgabe Stadt)

Die Europäisch­e Union braucht wieder eine gemeinsame Vision

Die Mitgliedsl­änder werden die Ukraine wohl zum Beitrittsk­andidaten machen. Eine Geste, die hohe Erwartunge­n schürt – und der EU ein großes Problem vor Augen führt.

- VON KATRIN PRIBYL redaktion@augsburger‰allgemeine.de

Als Robert Schuman vor 72 Jahren den Grundstein für die Entwicklun­g der heutigen Europäisch­en Union legte, begann der damalige französisc­he Außenminis­ter seine Erklärung mit prophetisc­hen Worten. „Der Friede der Welt kann nicht gewahrt werden ohne schöpferis­che Anstrengun­gen, die der Größe der Bedrohung entspreche­n.“Dann skizzierte Schuman seine Vision eines europäisch­en Bündnisses: Solidaritä­t, Frieden, die Verbesseru­ng der Lebensverh­ältnisse.

Wenn an diesem Donnerstag die 27 Staats- und Regierungs­chefs in Brüssel zum Gipfel zusammenko­mmen, reden sie auch über die Zukunft der Gemeinscha­ft. Das Treffen steht im Zeichen der Erweiterun­g, nachdem die Eu-kommission vergangene Woche empfohlen hatte, die Ukraine sowie Moldau offiziell zu Kandidaten für den Eubeitritt zu ernennen. Die Länder werden wohl zustimmen. Doch sehr viel wert ist dieses Verspreche­n nicht. Die Ukraine ist in der Realität Jahrzehnte von einer Mitgliedsc­haft entfernt. Es handelt sich hier um reine Symbolpoli­tik der 27 Staatenlen­ker. Diese einfache, vermeintli­ch große Solidaritä­tsgeste kostet sie nichts. Ob es sich derweil als gute Idee herausstel­lt, in Kiew solch hohe Erwartunge­n zu schüren, darf bezweifelt werden. Es könnte in einer bösen Enttäuschu­ng enden.

Die EU sollte die lautstark geäußerten Beitrittsb­estrebunge­n der Ukraine sowie der Westbalkan­länder lieber zum Anlass nehmen, sich an Gründungsv­ater Schuman zu erinnern. Wie selten zuvor braucht es eine gemeinsame und mutige Vision. Wohin steuert dieses Projekt? Wie will die EU die Gratwander­ung schaffen, einerseits handlungsf­ähig zu bleiben und anderersei­ts die Staaten Ost- und Südosteuro­pas enger an sich zu binden?

Gerne stilisiert sich der französisc­he Staatspräs­ident Emmanuel

Macron als Chef-reformator. Doch angesichts der vielen Vorschläge, die zu oft konkrete Ergebnisse missen lassen, fragen sich Beobachter in Brüssel zunehmend, ob Macron die Rolle des Schöpferge­istes ausfüllen kann – oder doch eher als schaumschl­agender Sonntagsre­dner durchgeht. Sein Vorschlag etwa, eine „europäisch­e politische Gemeinscha­ft“für beitrittsw­illige Länder

zu schaffen, mag der richtige Ansatz sein. Aufgrund der vielen Kritiker der „EU zweiter Klasse“hat er aber nicht allzu viel Aussicht auf Erfolg. Leider fehlt es an alternativ­en Vorstößen und Ideen genauso wie an Politikern, die Führung zeigen und voranschre­iten.

Dass einem Land im Krieg der Beitrittsk­andidatens­tatus verliehen wird, ist ein Novum. Aber obwohl in Europa mit dem Einmarsch russischer Streitkräf­te in die

Ukraine eine neue Zeitrechnu­ng angebroche­n ist, dürfen nicht alle Tabus fallen. Es wäre ein fataler Fehler, von dem komplexen Prozess und den Anforderun­gen abzurücken, die für Eu-anwärter gelten, sonst steht die Zukunft des Projekts als Ganzes auf dem Spiel.

Vielmehr sollte die Gemeinscha­ft diesen Moment für Reformen nutzen. Denn zur Wahrheit gehört auch, dass die Kriterien zum Beitritt zwar streng sind und man zu Recht eine funktionie­rende Demokratie vorweisen muss. Aber einmal im Klub, herrschte bislang beinahe Narrenfrei­heit. Niemandem ist bei der Einführung der Standards in den Sinn gekommen, dass Länder Prinzipien wie Rechtsstaa­tlichkeit auch wieder zurücknehm­en oder Korruption zum Teil des Systems machen könnten. Wie verhängnis­voll dieses Versäumnis war, zeigt sich in Polen und Ungarn. Erst muss der Rechtsstaa­tsmechanis­mus, das neue Instrument zur Wahrung der in der EU geltenden Werte, funktionie­ren, bevor Eu-träumer beginnen, ernsthaft über eine Erweiterun­g des Klubs nachzudenk­en.

Es fehlt an Ideen und Politikern, die Führung zeigen

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