Augsburger Allgemeine (Ausgabe Stadt)
Die Katastrophe kam in der Nacht
Ein starkes Erdbeben reißt in Afghanistan mindestens 1000 Menschen in den Tod. Rund 1500 sind verletzt. Doch die Rettungskräfte dringen nur langsam zu den Opfern vor.
Nicht nur tun sich die Hilfskräfte schwer, in das entlegene Erdbebengebiet zu gelangen. Auch Eindrücke aus der hart getroffenen Region drangen am Mittwoch nur spärlich nach außen. Doch so verwackelt manche Fotos auch sind: Sie zeigen das ganze Ausmaß der Naturkatastrophe.
Kabul/islamabad Er konnte einfach nicht aufhören zu zählen: „Überall herrscht ein großes Chaos. Ich habe in einer Stunde hundert Leichen gezählt“, sagte der Journalist Rahim Chan Chushal in der afghanisch-pakistanischen Grenzregion, die am frühen Mittwochmorgen ein schweres Erdbeben erschüttert hat. „Das Grauen ist groß. Die Eltern können ihre Kinder nicht finden und die Kinder ihre Eltern nicht. Jeder fragt sich, wer tot ist und wer lebt. Die Häuser sind aus Lehm, und deshalb wurden sie alle durch die starke Erschütterung zerstört.“
Nach offiziellen Angaben vom Mittwoch sind mindestens 1000 Menschen ums Leben gekommen, als im Osten Afghanistans die Erde bebte. Mindestens 1500 Bewohnerinnen und Bewohner seien verletzt worden, meldete die staatliche Nachrichtenagentur Bakhtar.
Die Taliban-führung sprach den Opfer-familien ihr Mitgefühl und Beileid aus. Nach Regierungsangaben wurden dutzende Häuser in den Provinzen Paktika und Chost zerstört. Die Bauweise in der armen und wirtschaftlich schwachen Region ist nicht erdbebensicher, viele Familien können sich einen solchen Schutz einfach nicht leisten. Zudem
das Beben viele Menschen in der Region nachts vollkommen überrascht haben.
Der Katastrophenschutz befürchtet eine noch höhere Opferzahl. Erschwert wurden die Rettungsarbeiten dadurch, dass die Erschütterungen vor allem im Gebirge zu spüren waren, wohin die Rettungskräfte nur schwer vordringen konnten. Drei Viertel des Landes bestehen aus solchen kaum zugänglichen Bergregionen.
Die militant-islamistischen Taliban, die seit August 2021 wieder in Afghanistan herrschen, riefen eine Notsitzung des Kabinetts zusammen. Mehrere Hubschrauber wurden in die Unglücksregion geschickt, um den Menschen vor Ort zu helfen. Ein Regierungssprecher rief Hilfsorganisationen zur Unterstützung auf. Bereits am Mittwoch trafen Helfer des Roten Halbmonds ein. Auch die Hilfsorganisation Humedica aus Kaufbeuren versprach ihre Unterstützung – finanziell vom Allgäu aus und vor Ort mithilfe ihrer Partnerorganisationen. „Viele Menschen haben durch das Beben alles verloren. Wir werden sie mit dem unterstützen, was sie zum Überleben brauchen, beispielsweise mit Wasser, Lebensmitteln und Hygieneartikeln, aber auch Medikamenten“, erklärt Andreas Dürr, der bei Humedica die Hilfsprojekte in Afghanistan koordiniert. Eine Partnerorganisation führe in der Nähe der Katastrophenregion andere Projekte durch. „Dadurch sind die Wege nicht weit“, so Dürr.
Die Us-erdbebenwarte vermeldete für das Beben um 1.30 Uhr am frühen Morgen die Stärke 5.9 sowie ein etwas schwächeres Nachbeben. Demnach befand sich das Zentrum des Bebens rund 50 Kilometer südwestlich der Stadt Chost nahe der Grenze zu Pakistan in rund zehn Kilometern Tiefe. Pakistanische Behörden hatten das Beben mit einer Stärke von 6.1 registriert. Deren Angaben zufolge waren die Erschütterungen in weiten Teilen des angrenzenden Landes – auch in der Hauptstadt Islamabad und selbst in Lahore im Osten – zu spüren. Mancherorts brach Panik aus, über Schäden oder Verletzte in Pakistan war nach ersten Angaben jedoch nichts bekannt. Pakistans Premierminister Shehbaz Sharif stellte Hilfe für die Menschen im Nachbarland in Aussicht.
Papst Franziskus betete in Rom für die Opfer. „Ich drücke den Verletzten und denen, die vom Erdbedürfte ben betroffen sind, meine Nähe aus“, sagte das Oberhaupt der katholischen Kirche am Mittwoch am Ende der Generalaudienz auf dem Petersplatz.
Immer wieder kommt es zu schweren Erdbeben in der Region am Hindukusch und den Nachbarländern, wo die Arabische, die Indische und die Eurasische Platte aufeinandertreffen. 1998 erschütterte ein Beben den Norden Afghanistans, mehrere tausend Menschen starben. In Pakistan starben 2005 bei einem gewaltigen Erdbeben mehr als 75.000 Menschen, über 3,5 Millionen wurden obdachlos.