Augsburger Allgemeine (Ausgabe Stadt)
Deutschland und seine Jugend: Etwas weniger Zeigefinger, bitte!
Die Sorgen junger Leute werden kaum ernst genommen. Stattdessen heißt es: Macht mehr für die Gesellschaft. Wie zynisch.
Der erhobene Zeigefinger kann eine effektive Geste sein. Wenn man mit Kindern spricht etwa. Da wirkt dieses unausgesprochene Du-du-du! noch konditionierend. Ab der Pubertät aber verliert der Finger seine belehrende Wirkkraft. Denn zum Heranwachsen gehörte schon immer, sich an der älteren Generation zu reiben, Konventionen zu hinterfragen, 1968 gegen den Vietnamkrieg zu sein oder nun eben für das Klima auf die Straße zu gehen. Trotz alledem sprechen viele der heute Lebensreifen so, als wären sie selbst nie jung gewesen. Der Zeigefinger, er regiert allenthalben.
Nichts versinnbildlicht das so sehr wie der Blick, nein das Schielen auf die Jugend während der Pandemie. Als in Ministerpräsidentenkonferenzen um Inzidenzwerte gefeilscht wurde, ging unter, welchen Tribut junge Menschen in diesen Zeiten zollen mussten. Der erste Urlaub allein: gestrichen, die Abiturfeier: abgesagt, das Studentenleben: eine Videokonferenzendauerschleife. Keine Partys, kein Kennenlernen. Der Esprit eines Lebensabschnitts: wegradiert. Die Jugend verzichtete, um die Älteren, um die Vulnerablen zu schützen. Das war richtig, das war wichtig.
Der Dank? Während Psychologen schon Alarm schlugen angesichts der Ängste und Sorgen der jungen Bevölkerung, waren Luftfilter in Schulen noch die Ausnahme, lag der Fokus auf Schimpftiraden über flaumbärtige Biertrinker in Parks, drehte die Bundesregierung einen zynischen Werbeclip mit dem Tenor: Liebe junge Leute, bleibt zu Hause, auf der Couch, vor der Glotze – und rettet die Welt.
Wer im ersten Lockdown 18 war, steuert jetzt, hoffentlich in der Endphase dieser Pandemie, schon auf die 21 zu. Wäre das Leben ein Film, man hätte bei der aufregendsten Szene einfach vorgespult. Und genau in diesem Moment wärmt Bundespräsident Frank-walter
Steinmeier die lauwarme Debatte um eine Dienstpflicht wieder auf. Der Sinn dahinter mag wohlfeil sein. Soziale Arbeit verbreitert den Horizont. Eine Kaserne schärft die Disziplin. Die Botschaft aber ist einmal mehr: Tut doch ihr auch mal was für unsere Gesellschaft!
Für eine Gesellschaft wohlgemerkt, die individuelle Freiheit sonst auch gern über das Kollektiv stellt und für jede Lebenssituation inzwischen eine passgenaue Lösung sucht. Homeoffice, flexible Arbeitszeiten – alles gewünscht. Doch wenn die Gerade-erst-abiturientin per Interrail durch Europa reisen will oder – ganz schlimm – einfach kurz planlos tut, worauf sie jetzt, nach Jahren des Paukens, eben Lust hat, dann soll das eine Kampfansage der Generation Ich an das Gemeinwohl sein? „Aus der eigenen Blase“sollen die jungen Leute kommen, sagte Steinmeier. Rein physikalisch hält eine Blase ihr Innerstes zusammen. Und vielleicht ist das nicht die schlechteste Sache in einer Zeit, in der zuletzt so viele Träume und Gewissheiten einfach platzten. Gut die Hälfte der 14- bis 25-Jährigen engagiert sich nach einer Umfrage des Bundesfamilienministeriums ehrenamtlich. Die Jugend ist so politisiert wie lange nicht. Zu Tausenden geht sie für die Ukraine auf die Straße, gegen Sexismus und zum Wohle der Zukunft dieses Planeten. Und doch treffen sie Ignoranz, Spott und herabschauende Blicke.
Natürlich darf man die Methoden der Straßenblockierer verabscheuen und die Hysterie des Fridays-forfuture-gesichts Luisa Neubauer befremdlich finden. Jede junge Kohorte war laut und unperfekt. Nur: Damit diese Gesellschaft nicht auch noch zwischen den Generationen auseinanderbricht, wäre es angemessen, den Jungen zumindest zuzuhören, ihre Anliegen ernst zu nehmen, den erhobenen Zeigefinger einzustecken und ihnen einfach mal die Hand zu reichen.
Es wäre angebracht, den Jungen mal die Hand zu reichen