Augsburger Allgemeine (Ausgabe Stadt)
Eine magische Geschichte
Vor 25 Jahren erschien der erste Band von „Harry Potter“. Seinetwegen öffneten Buchhandlungen um Mitternacht, Millionen Jugendliche hofften auf den Brief aus Hogwarts. Ist heute immer noch alles zauberhaft?
Augsburg Nur zwei Pässe braucht seine Mannschaft, bis der lasch aufgepumpte Volleyball am Ende des Spielfeldes bei Johannes Klaiber landet. Lässig bugsiert der junge Mann mit dem blonden Haar und dem grün-schwarzen Trikot mit der Nummer 99 auf dem Rücken ihn einhändig durch den Ring, der auf Kopfhöhe an einer Stange befestigt ist. Zehn Punkte.
An diesem Donnerstagabend trainieren auf dem Sportgelände des FC Haunstetten die Augsburg Owls. Wie rund 50 andere Teams in Deutschland spielen sie Quidditch. Die Sportart, bei der Harry Potter der Überflieger ist. Bei der in der Welt der Jugendromanreihe sieben Spielerinnen und Spieler pro Mannschaft auf Besen fliegend versuchen, Bälle durch Ringe zu werfen, die in zwanzig Metern Höhe angebracht sind. In der Wirklichkeit findet alles ein paar Etagen tiefer statt. Hier in Augsburg, wo auf einem Sportplatz neben einer Tramstation gespielt wird und nicht in einem gigantischen, hölzernen Stadion vor einem Schloss, das eine Zauberschule beherbergt, stehen die insgesamt sechs Ringe auf unterschiedlichen Höhen zwischen 91 und 183 Zentimetern. Und die Besen fliegen natürlich nicht. Sie kehren auch nicht. Die Plastikrohre, die zwischen den Beinen der Spielerinnen und Spieler der Augsburg Owls klemmen, haben keine Borsten.
Trotz der Unterschiede sind die Parallelen zum fiktiven Vorbild, das sich die Autorin Joanne Kathleen Rowling ausgedacht hat, unübersehbar. Jetzt wird Harry Potter 25 Jahre alt. Der erste Band der Reihe wurde am 26. Juni 1997 in Großbritannien veröffentlicht – und legte den Grundstein für die erfolgreichste Buchreihe aller Zeiten. Der Erfolg hält an. Harry Potter war immer da und ist es nach wie vor.
Der Versuch, das Harry-potteruniversum in Zahlen darzustellen, bringt vor allem eines hervor: Superlative. Die sieben Bücher gibt es in 80 verschiedenen Sprachen. Vom letzten Band, „Die Heiligtümer des Todes“aus dem Jahr 2007, wurden mehr als acht Millionen Exemplare verkauft – in den ersten 24 Stunden. Die acht Filme spielten weltweit über sieben Milliarden Euro ein. Was hatte Schöpferin Rowling finanziell davon? Ihr Vermögen beträgt nach manchen Schätzungen eine Milliarde Euro.
Eine Belohnung für Rowlings Hartnäckigkeit. Denn zu den Zahlen rund um das Harry-potter-universum gehört auch die Zwölf. So viele Absagen hat die britische
Schriftstellerin mit ihrem Manuskript kassiert, bevor der Londoner Verlag Bloomsbury Interesse zeigte. Auch heute sind die Bücher noch Verkaufsschlager. Bloomsbury verzeichnet seit der Corona-pandemie enorm steigende Umsätze und schüttet in diesem Jahr einen Sonderbonus an alle Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter aus – Harry Potter ist daran nicht ganz unbeteiligt.
Wer verstehen will, welchen Wirbel die Romane in Deutschland ausgelöst haben, muss wissen, was sich um die Jahrtausendwende in Buchläden abgespielt hat. Immer, wenn ein neuer Band erschien, standen Menschen Schlange, manchmal über eine Stunde lang. Oft veranstalteten die Inhaberinnen und Inhaber Harry-potter-partys und händigten pünktlich um null Uhr die ersten Exemplare aus.
Ingrid Ranke hat Harry Potters Höhenflug in den vergangenen Jahrzehnten hautnah miterlebt. Die Inhaberin der Ulrichs-buchhandlung in Königsbrunn im Landkreis Augsburg sagte unserer Redaktion im Oktober 2000: „Das ist absolut einmalig, was sich um dieses Buch abspielt.“Damals war gerade der
Musste sich bei seinen Abenteuern oft schmutzig machen: Schauspieler Daniel Radcliffe in einer Szene des Kinofilms „Harry Potter und die Kammer des Schreckens“. Mit ihm sind auch die Fans des Zauberschülers erwachsen geworden.
vierte Band erschienen, „Harry Potter und der Feuerkelch“. 500 Exemplare hatte sie für ihren Laden vorbestellt, die Hälfte davon war nach kurzer Zeit reserviert. Stückpreis: 44 Mark.
Eine Folge des Wirbels um die Zauberwelt ist auch, dass sich weltweit Quidditchteams gebildet haben. Obwohl die Hitze den meisten schon nach wenigen Minuten den Schweiß auf die Stirn treibt, bleiben die Spielerinnen und Spieler der Augsburg Owls ständig in Bewegung. Bei der nächsten Übung hallt die Stimme von Trainerin Elisa Schenk über den Rasen. Alle stehen im Kreis um einen Haufen mit fünf Bällen, Gummibälle, wie sie beim Völkerball verwendet werden. „Ready?“Auf Schenks Kommando hin rennen sie los. Wer schnell genug ist, schnappt sich einen Ball und wirft die anderen ab. Wer keinen Ball hat, versucht auszuweichen. Das gelingt teilweise mit dynamischen Sprüngen in die Luft – öfter aber klatschen die Bälle gegen Bäuche, Oberschenkel und Waden.
Ein paar Bälle bekommt auch Judith Karpaty ab, die das Owls-trikot mit der Nummer 21 trägt. Sie weiß, dass die Welt der Zauberschule Hogwarts, wo der junge Harry Potter mit Freund Ron und Freundin Hermine nicht nur Quidditch, sondern auch das Leben kennenlernt, noch immer eine starke Anziehung ausübt. Viele Spielerinnen und Spieler der Augsburg Owls sagen, dass sie früher große Harrypotter-fans waren. Manche sind laut Karpaty aber auch über den Hochschulsport auf Quidditch aufmerksam geworden. Erst im Winter habe sie die Filme wieder angeschaut, sagt die 25-Jährige, die Internationale Literatur studiert.
seien aber die Bücher. Die Themen möge sie noch immer. „Ich habe aber einen anderen Blick darauf.“Rowling, die sie früher ganz toll gefunden habe, könne sie mittlerweile nicht mehr ausstehen.
So scheint es vielen zu gehen. Der Deutsche Quidditchbund plant keine Veranstaltung zum Jahrestag des ersten Harry-potter-romans. Es werde versucht, sich weiter von Harry Potter abzugrenzen, auch gerade wegen Äußerungen von Rowling, teilt der Verband mit. Die Autorin sprach sich gegen die gesellschaftliche und rechtliche Gleichstellung von Transfrauen mit Frauen aus, die bereits mit weiblichen Geschlechtsorganen geboren sind. In der Quidditch-gemeinschaft, die als besonders offen gilt, kam das nicht gut an. Geschlechterausgeglichenheit ist hier sogar Vorschrift: Von den sieben Mitgliedern eines Teams, die gleichzeitig auf dem Feld stehen, dürfen sich maximal
vier mit demselben Geschlecht identifizieren. Dazu zählen neben männlicher und weiblicher Identifikation auch nicht-binäre Geschlechtsidentitäten. Entsprechend groß war die Enttäuschung über Äußerungen der Autorin. „Von Rowling distanzieren wir uns alle“, sagt Karpaty.
Der Deutsche Quidditchbund ist sogar für eine Namensänderung des Sports, um sich von Harry Potter abzugrenzen und neue Möglichkeiten für Sponsoring zu erschließen, ohne Gefahr zu laufen, Markenoder Filmrechte zu verletzen. Das Thema wird laut Karpaty bei den Augsburg Owls diskutiert, sei aber kein Riesen-streitpunkt. Im Falle einer Namensänderung müssten sie wohl auch ihre Ausrüstung ändern. Denn das Wort Quidditch steht im Wappen des Teams, das auf den weißen Trikots über den Eulenflügeln prangt und sogar auf den grünrot-weißen Badeschlappen, die während des Trainings neben Sportwichtiger
Das Runde muss ins Runde: Dank Harry Potter haben sich weltweit Quidditchteams gebildet. Die Augsburg Owls spielen international.
taschen und Trinkflaschen Spielfeldrand liegen.
Auch Johannes Klaiber, der während der Corona-pandemie zum Team gekommen ist, sagt, dass der Sport sich immer mehr von Harry Potter löse. Trotzdem sei es die Verbindung zur Fantasy-welt, die Quidditch besonders mache. Mit den Owls war er Anfang Juni beim europäischen Quidditch-pokal im irischen Limerick. „Viele haben als Kind den Traum, Profisportler zu werden. Hier bekommt man das Gefühl, einen Sport auf internationalem Niveau zu machen“, sagt Klaiber.
Andere stecken tiefer in der Zauberwelt. Das zeigt der Blick in ein Jugendzimmer im Dachgeschoss eines Hauses in der Nähe von Landsberg am Lech. Hier wohnt die 14-jährige Leonie, die großer Fan der Fantasy-welt ist. Sie sagt: „Ich habe das erste Mal vor zwei Jahren die Filme gesehen. Darauf gekommen bin ich durch Videos auf Tiktok.“Vergangenes Jahr habe sie dann auch ein paar der Bücher gelesen. Die Filme habe sie besser gefunden, weil sie nicht gerne lese. Ihre Freundin Lea, die neben ihr sitzt und einen Teil ihrer Haare pink gefärbt hat, sieht das etwas anders: „Wir hatten die Filme zu Hause und ich wollte sie schon als Kind immer sehen. Meine Mama hat gesagt, ich muss erst die Bücher lesen. Ich finde die Filme wahnsinnig gut, aber die Bücher sogar ein bisschen besser.“
Was macht für Jugendliche, die noch nicht auf der Welt waren, als die meisten der Bücher und Filme erschienen sind, den Reiz am Harry-potter-universum aus? „Ich finde die Orte, an denen gedreht wurde, sehr schön“, sagt Leonie. Lea ergänzt: „Es ist ja nicht nur die Zaubergeschichte, die im Vordergrund
am steht, sondern zum Beispiel auch die Beziehung zwischen Hermine und Ron und die Freundschaften. Man merkt, dass die Interessen, je älter Harry wird, auch anders werden.“Auf die Frage nach ihren Lieblingsfiguren zählen Lea und Leonie eine lange Liste auf. Der unberechenbare Lehrer Severus Snape ist dabei, die intelligente Hermine, auch Tom Riddle, der später zu Harrys Widersacher Voldemort wird. Aber Harry Potter selbst fehlt. „Er drückt sich immer so in den Vordergrund und dann geht es nur um ihn. Das nervt manchmal ein bisschen“, sagt Leonie.
Ihre Liebe zur magischen Welt spiegelt sich auch in Leonies Zimmer wider. Sie zeigt auf eine Box auf einem Regalbrett: „Hier habe ich alle Filme.“Aus ihrem Kleiderschrank holt sie einen Umhang in den Farben Slytherins, eines der vier Häuser der Zauberschule Hogwarts. Daneben hängt eine grüne Hogwarts-hose. Außerdem habe sie einen Zauberstab, ein Notizheft von Harry Potter, Harry-potter-bettwäsche und ein Harry-potterhandtuch, zählt die Schülerin auf.
Werner Barg ist Medienwissenschaftler und Autor. Für sein Buch „Blockbuster Culture“hat er untersucht, warum Jugendliche besonders von Comic- oder Fantasy-verfilmungen fasziniert sind. Einen Grund, weshalb Jugendliche verschiedener Generationen sich für Harry Potter begeistern können, sieht er darin, dass die Bücher und Filme alle Phasen der Adoleszenz von der Kindheit bis in die späte Jugend abbilden. „Das Zeitlose daran ist, dass Situationen beschrieben werden, die alle Jugendlichen immer wieder durchlaufen“, sagt Barg im Gespräch mit unserer Redaktion. Dabei gehe es um Themen wie Freunde finden, Erwachsenwerden, die erste Liebe oder die Abnabelung von der Familie.
Dazu komme, dass Harry bei diesen Entwicklungsschritten Hilfe von seinen Freunden Ron und Hermine, sowie von seinem Mentor Dumbledore bekomme und dass er den Herausforderungen in einer Fantasywelt begegne. „Das ist für Jugendliche noch mal ein zusätzlicher Reiz.“Denn in diesem Alter beschäftigen viele sich gerne mit Szenarien, die über ihre Lebensrealität hinausgehen. Dass trotzdem auch Erwachsene gerne in die Zauberwelt eintauchen, ist laut Barg ein Grund für den lang anhaltenden Erfolg der Reihe: „Große Kino- und literarische Erfolge bieten oft Anknüpfungspunkte sowohl für Erwachsene als auch für Kinder.“
Zeitlos bleibt auch die Vermarktung von Harry Potter. Erst im
Bücher und Filme der Superlative
Die Themen sind für Jugendliche zeitlos
April kam „Phantastische Tierwesen: Dumbledores Geheimnisse“ins Kino, der dritte von voraussichtlich fünf Filmen, welche die Vorgeschichte zur Harry-potter-reihe erzählen. In Hamburg wird seit einem halben Jahr ein Harry-potter-theaterstück aufgeführt, das sich schon mehr als 100.000 Menschen angeschaut haben. In Köln, Bochum und Krefeld gibt es Escape-rooms, in denen Rätsel rund um die Zauberwelt gelöst werden müssen. Und in der Augsburger City-galerie verkauft ein Laden Zauberstäbe, Kleidung im Harry-potter-stil, Harrypotter-puzzle, Harry-potter-kartenspiele und selbst Harry-potterkochbücher.
Auch bei den Augsburg Owls wird es selbst im Falle einer Namensänderung des Quidditchsports weiterhin etwas Harry Potter geben. Auf Judith Karpatys Haut ist er verewigt. Ihr Tattoo möge sie trotz der Kontroverse um Rowling noch. „Da war ich 18“, sagt die Studentin und zeigt die Innenseite ihres linken Handgelenks. „All was well“, steht da, der letzte Satz des letzten Harry-potter-buches: Alles war gut.