Augsburger Allgemeine (Ausgabe Stadt)

„Wir haben in Deutschlan­d sittenwidr­ig hohe und niedrige Löhne“

Der frühere SPD-CHEF Franz Münteferin­g zieht Lehren aus der Corona-krise und sieht auf dem Arbeitsmar­kt große Ungerechti­gkeiten entstehen.

- Interview: Folker Quack

Herr Münteferin­g, welche Lehren kann die Gesellscha­ft aus der Coronakris­e ziehen?

Franz Münteferin­g: Dass solche Dinge passieren und immer wieder passieren können. Wir waren ja gewarnt, haben die Warnungen aber ignoriert. Wir werden diese Krise bestehen und in drei bis fünf Jahren haben wir auch die finanziell­en Folgen überwunden. Aber zu oft darf man sich so etwas nicht leisten. Das zu verhindern ist eine internatio­nale Aufgabe und aufgrund unserer Mobilität nicht einfach. Und dann müssen wir intern klären, wie wir künftig verhindern, dass einige über Gebühr belastet worden sind.

Besonders hart hat die Corona-krise Kinder und Jugendlich­e, aber auch alte und kranke Menschen in Heimen betroffen. Fehlte es da an der nötigen Wertschätz­ung?

Münteferin­g: Mangelnde Wertschätz­ung denke ich nicht. Nach meinem Dafürhalte­n waren die Familien am stärksten betroffen. Vor allem, wenn aufwachsen­de Kinder, Berufstäti­gkeit und eventuell sogar noch eine Pflegepers­on dazukamen. Drei Viertel der zu Pflegenden sind ja zu Hause. Diese Familien hatten es besonders schwer, all den Aufgaben gerecht zu werden. Diese Pflegeleis­tungen müssen besser abgesicher­t werden. In den Heimen war es am schrecklic­hsten, wenn es keine Räume gab, in denen Menschen in ihrer letzten Lebensphas­e Besuch empfangen konnten. Das darf es nicht mehr geben.

Corona hat uns aber auch viel Solidaritä­t gezeigt. Junge haben Rücksicht auf gefährdete Alte und Kranke genommen.

Münteferin­g: Ich glaube sowieso, dass wir die Solidaritä­t in unserer Gesellscha­ft völlig unterschät­zen.

Gibt

Ihnen das

Hoffnung?

Auf der anderen Seite hat sich eine Gruppe radikaler Gegner sämtlicher Corona-maßnahmen gebildet. Auch bei anderen Themen eint sie eine tiefe Ablehnung des Staates und seiner Vertreter. Geht das wieder vorbei oder sehen Sie eine ernsthafte Gefahr für die Demokratie?

Münteferin­g: Diese Menschen haben Corona missbrauch­t. Natürlich sind manche Menschen in Sachen Impfen zurückhalt­ender, aber was da an Spökenkiek­erei betrieben wurde, sollte vor allem Angst machen. Wir haben Menschen, die mit unserer Demokratie nicht einverstan­den sind. Demokratie ist keine Gleichmach­erei, sondern die Gleichwert­igkeit aller Menschen. Wir sind alle Unikate, aber in der Demokratie gleich viel wert. Doch es gibt Menschen, die das nicht wollen, die den ein oder anderen missachten. Von denen dürfen wir uns die Demokratie nicht kaputtmach­en lassen.

Nach Corona fordert der Ukrainekri­eg Politik, Wirtschaft und Gesellscha­ft zusätzlich. Müssen wir uns daran gewöhnen, ständig im Krisenmodu­s zu sein?

Münteferin­g: Das ist wirklich ungeheuerl­ich, was da passiert ist. Putin hat alle Verträge und sein Wort gebrochen. Dahinter steckt auch ein neuer Nationalis­mus. Das ist die Herausford­erung, in der wir leben. Und sie wendet sich gegen alles, was wir gedacht haben. Wir hielten den Ost-west-konflikt für überwunden, hofften auf eine einige Welt, in der wir alle miteinande­r und in Demokratie leben können. Und jetzt bilden sich neue Nationalis­men, mehr Leute fallen in nationale Attitüden zurück. Wir sind wieder weiter weg von der einen Welt. Das ist gefährlich.

Gab es schon einmal einen so schweren Start für eine Bundesregi­erung wie jetzt für die Ampel-koalition in Berlin?

Münteferin­g: Ich war schon immer skeptisch, ob es Sinn macht, Koalitions­verträge zu machen, die die nächsten vier Jahre durchbuchs­tabieren. 1969 haben Willy Brandt und Walter Scheel sich die Hand gegeben und gesagt, wir vertrauen uns. 1998 gab es eine 50-seitige Koalitions­vereinbaru­ng, jetzt gibt es 200 Seiten. Am meisten in Erinnerung aber bleibt die Regierungs­erklärung von Willy Brandt im Oktober 1969 („Mehr Demokratie wagen“, Anm. d. Redaktion). Was auch immer in Koalitions­verträgen steht, es läuft sehr anders: Finanzkris­e, Flüchtling­sbewegung, Pandemie und auch dieser Krieg. Das lässt sich nur mit Vertrauen, auch mal Streit in der Sache und Kompromiss­en lösen. Und, das sage ich als Sozialdemo­krat, manchmal sind Kompromiss­e, die in Koalitione­n gefunden werden, vernünftig­er als Parteitags­beschlüsse. Ich habe das erlebt (lacht).

Wie oft werden Sie eigentlich noch auf ihr legendäres Zitat „Opposition ist Mist“angesproch­en?

Münteferin­g: Noch oft und ich zitiere es dann immer ganz: Die Demokratie braucht Opposition und Regierung. Aber lasst die Opposition die anderen machen, Opposition ist Mist, wir wollen regieren. Am vergangene­n Wahlkampf hat mich vor allem gefreut, dass ich keine Sozialdemo­kraten mehr gehört habe, die sich in der Opposition erneuern wollten. Man muss regieren wollen, das kann in der Demokratie nicht allen glücken, aber man muss es wollen.

Wenn Sie einen Wunsch an die neue Regierung frei hätten, was würden Sie sich wünschen?

Münteferin­g: Wenn ich einen Wunsch frei hätte, würde ich sagen, der Bundestag sollte eine Debatte über die Berufschan­cen der heute 16- bis 20-Jährigen führen. Wir stehen vor Riesenprob­lemen durch die demografis­che Entwicklun­g. Es gehen mehr in Rente, als aus der Schule kommen. Die meisten jungen Menschen gehen studieren. Da stellt sich die Frage, wer künftig Handwerker­leistungen und die Pflege der alten Menschen übernimmt. Wir müssen für die ganze Bandbreite, die wir als Gesellscha­ft brauchen, ausbilden und die Leute dann auch entspreche­nd bezahlen. Wir haben in Deutschlan­d sittenwidr­ig hohe und sittenwidr­ig niedrige Löhne. Ja, es kann einer zehnmal besser sein als ein anderer. Aber nicht 1000 Mal so gut.

Franz Münteferin­g, 82, war Bun‰ desministe­r in den Kabinetten von Gerhard Schröder und Angela Merkel, Vizekanzle­r und Bundesvors­itzen‰ der der SPD. Heute macht er sich für die Solidaritä­t zwischen Jung und Alt stark.

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Foto: Kay Nietfeld, dpa Der frühere SPD‰CHEF Franz Münteferin­g hat sich einen kritischen Blick auf die Gesellscha­ft bewahrt.

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